«Der kaukasische Kreidekreis» von Bertolt Brecht handelt von zwei Frauen, die sich um die Mutterschaft eines Kindes streiten: Die leibliche Mutter, eine Fürstin, die den Sohn aber im Stich lässt. Die Magd Grusche, die sich um ihn kümmert.
Das salomonische Urteil findet der Dorfrichter Azdak anhand einer Probe: Er stellt das Kind zwischen die Frauen in einen Kreidekreis, die wahre Mutter wird die Stärke haben, es herauszuziehen. Beide reissen sich wortwörtlich um das Kind – Azdak spricht es Grusche zu, die loslässt, um ihm nicht wehzutun.
Was bedeutet Mütterlichkeit?
Die Lehre ist klar und bei Brecht politisch motiviert, um die Besitzansprüche des Kommunismus darzulegen. Aber, fragt das Theater Hora, «zu wem würde das Kind gehen, wenn es nicht gezogen würde?» Bei Brecht ist es nicht viel mehr als ein Objekt, an dem ein Exempel statuiert wird.
Was könnte es verlocken? Was bedeutet überhaupt Mütterlichkeit? Wer würde sich noch als Mutter eignen? Der Dorfrichter vielleicht? Oder Grusches Verlobter, der Soldat? Und wenn das Kind nicht so niedlich und gesund wäre, würde Grusche es dennoch wollen? Hätte die Fürstin es zur Welt gebracht, wenn es nicht ihren Erwartungen entspräche?
Fragen nach der eigenen Rolle
Die Ensemble-Mitglieder des Theaters Hora stellen neue Fragen an Brechts altes Lehrstück. Fragen aus einer Welt von heute – was ist das überhaupt, eine «Kinderfrau»? Das versteht sich ja nicht mehr einfach so.
Sie stellen Fragen, die sie selbst betreffen. Fragen nach der Rolle, die sie spielen. Was gefällt ihnen an ihrer Figur? In einem berührenden Moment lassen sie Bücher im Publikum herumgehen, die von ihnen und ihren Kinder-Biografien erzählen.
Ein achtsamer Rahmen
Die Regisseurin Helgard Haug, bekannt von der Dokumentartheater-Gruppe «Rimini Protokoll», verleiht diesen Fragen einen achtsamen Rahmen. «Ich habe Brechts Stücke immer gerne gelesen, aber zu viele museale Inszenierungen gesehen», erklärt sie.
Darum sei es für sie wichtig, seine Texte auf ihre «Heutigkeit» hin zu überprüfen. «Das war auch Brechts eigener Anspruch. Mir geht es immer darum, aktuelle Themen gemeinsam auf der Bühne zu verhandeln», so Haug.
In Haugs Inszenierung bedeutet Nachhaken auch Vermitteln. Namentlich dem Schauspieler Remo Beuggert in der Rolle des Dorfrichters kommt dabei eine zentrale moderierende Funktion zu.
Es geschieht zum ersten Mal, dass ein inklusives Theater für eine Koproduktion an die Salzburger Festspiele eingeladen ist, die es seit 1920 gibt. Die abtretende Schauspielchefin Bettina Hering hat es zu ihrem Abschied eingefädelt.
Immer mehr Kreidekreise
Helgard Haugs Inszenierung lässt Raum für fantasievolle, spielerische Einlagen, etwa wenn Grusche sich in aller detaillierten Romantik ihre Hochzeitsfeier inklusive Hochzeitsorgasmus vorstellt. «Wir sind das schönste Traumpaar!»
Ein Glanzstück, das ähnlich auch schon in anderen Hora-Stücken vorkam und beiläufig an ein Tabu rührt: die Sexualität von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung.
Nicht weniger als achtmal spielen sie die Gerichtsprobe durch. Immer mehr Kreidekreise entstehen am Hallenboden und verkringeln sich ineinander. Bis am Ende das Kind fragt: «Muss ich mich denn entscheiden?» Und der Richter: «Braucht ihr Mütter dieses Kind?»
Was ist eine gute Entscheidung? Eine gute Frage!