Eine unendlich weite Wüstenlandschaft in gleissendem Sonnenlicht. Fünf Avatare stehen sich auf sandigem Boden gegenüber und geben sich die Hände. Elektronische Hände greifen dabei in Hände aus Fleisch und Blut.
Das lässt die Sinne schlackern und Hirne hüpfen, das kitzelt die Rezeptoren. Was ist echt? Was virtuell? Im neuen Tanzstück «VR_I» des renommierten Genfer Choreografen Gilles Jobin verschwimmen die Ebenen. Für die Zuschauer ein gleichsam verwirrendes wie packendes Erlebnis.
Technophile Tänzer
«‹VR_I› ist ein Versuchslabor. Eine Mischung aus Performance und Installation. Ein 3D-Film, in den man eintauchen kann», sagt Gilles Jobin.
Gemeinsam mit dem Genfer Tech Start-Up Artanim hat der technophile Tänzer das Projekt lanciert und technisches Neuland erforscht: Fünf Menschen können gleichzeitig in seine 20 Minuten dauernde Inszenierung eintauchen und werden zu Mitmachern.
Sie können interagieren, miteinander sprechen und sich auf einer Fläche von 8x5 Metern frei bewegen. Ausgestattet mit einem Rucksack, Sensoren an Händen und Füssen und einer Virtual Reality Brille.
«Man wird ganz zum staunenden Kind» sagt eine der Zuschauerinnen hinterher – mit glänzenden Augen. «Ich könnte einen ganzen Tag in dieser Phantasiewelt verbringen», strahlt eine andere.
Bewegung digitalisieren
Für den etablierten Choreografen öffnet die Arbeit mit Virtueller Realität ein neues unbegrenztes Experimentierfeld. Die Erfassung der Bewegung im Raum, das Spiel mit Bewegung, Volumen, Grössenverhältnissen befeuern seine Phantasie. «Wenn jeder Bestandteil einer Bewegung perfekt eingefangen und digitalisiert werden kann, ist das fantastisch für einen Choreografen.» sagt er.
«Wir sind Spezialisten des Volumens. Spezialisten des Raums. Des Raums zwischen Körpern. Daraus nehmen wir die Spannung und die Dramatik. Und in dieser Technik liegt unerschöpfliches kreatives Potential. Die Möglichkeiten mit diesen Mitteln zu spielen sind schwindelerregend endlos. Ich kann Figuren 30 Meter hoch oder drei Zentimeter klein werden lassen. Es reicht, es zu sagen und die Computerspezialisten setzen es um. Das ist verrückt.»
Tanz erlebbar machen
Jobin will mit seinem Stück vor allem eines: Tanz für das Publikum neu und anders erlebbar machen. Der Zuschauer wird aktiver Teil der Choreografie. Er ist involviert: optisch, akkustisch, räumlich. Er ist im Tanz drin und kann ihn von allen Seiten erfassen und erleben.
Weltweit erstmalig betritt der Genfer Choreograf solche virtuellen, digitalen Dimensionen. Und trotz aller Begeisterung für die technischen Möglichkeiten ist Gilles Jobin der Technologie nicht verfallen. Er benützt sie zur Vermittlung.
«Mich interessiert in erster Linie die Kunst und nicht die Technologie. Ich kümmere mich um den Inhalt und behandle diesen für eine Szene auf der Bühne oder einer virtuellen Szenerie gleich», so Jobin.
Taumelnde Sinne
Von Ferne tauchen Riesen auf. 30 Meter hohe Menschen schreiten durch die Wüstenlandschaft über die Zuschauer-Avatare hinweg. Es ist Jobins Tanztruppe in elektronischer Gestalt.
Sie beäugen die staunenden Zwergenwesen neugierig, strecken die Hände nach ihnen aus. Das ist für jene wiederum wunderbar unheimlich und eine obwohl technisch evozierte, sehr sinnliche Erfahrung. Der traumtänzerische Trip in Jobins phantastische Bilderwelten lohnt sich.
Sendung: SRF 1, Kulturplatz, 11.10.2017, 22:25 Uhr