Das Wichtigste in Kürze
- Tanz ist eine flüchtige Kunstform. Es stellt sich deshalb die Frage, wie sie überliefert werden kann.
- Das Schweizer Tanzarchiv sammelt Fotografien, Videos und Notizen, um das Erbe von Tänzern und Choreographinnen zu erhalten.
- Notationen, also aufgeschriebene Bewegungsabläufe – gibt es in der Schweiz kaum.
Dem Tanz fehlt Ordnung
Für Worte gibt es das Alphabet, für Musik Notenlinien und Notenschlüssel. Texte und Kompositionen werden festgehalten und bleiben, falls sachverständig archiviert, Jahrhunderte lang erhalten. Es herrscht Ordnung.
Im Tanz jedoch, wo Disziplin und Ordnung vorrangig sind, ist die Quellenlage lückenhaft. Gerade in der Schweiz. Wenn eine Choreografin, ein Choreograf stirbt, die Assistenz krank wird, in Rente geht oder den Beruf an den Nagel hängt, wenn sich eine Tanzkompanie auflöst, dann ist es leicht möglich, dass das Gesamtwerk verloren geht.
Tanz ist eine flüchtige Kunstform. Sie zu erhalten und zu dokumentieren fordert das Schweizer Tanzarchiv mit Sitz in Zürich und Lausanne ganz schön heraus.
Bewegung vermitteln
Im nationalen Kompetenzzentrum lagern rund 4'000 Videotitel, dutzende Bücher, die auf dem Markt längst vergriffen sind, beispielsweise Titel zum Schweizer Totentanz, Zeitschriften, Presseausschnitte, Programmhefte, Plakate, Fotografien, Objekte. Das Ziel: das choreografische Kulturerbe der Schweiz zu erhalten und zu vermitteln.
Die Co-Direktorin Beate Schlichenmaier erklärt: «Zu uns kommen Forschende, Choreographen, Dozierende, Journalisten und Tanzbegeisterte. Wir pflegen aber auch die Vermittlung. Zum Beispiel wollen wir Schulklassen für Bewegung sensibilisieren.»
Schätze im Depot
Eines der Archiv-Highlights: Der private Nachlass des Balletttänzers und Choreografs Maurice Béjart. Das Archiv dient als Depot der wertvollen Sammlung, die in einer Dauerausstellung in Lausanne präsentiert wird.
Auch zeitgenössische Schweizer Künstler, die im Ausland tätig sind, wie etwa Martin Schläpfer, sind vertreten. Oder historische internationale Werke von Tanzschaffenden, die für die Schweiz Relevanz haben wie George Balanchine, Pina Bausch, Martha Graham oder Rudolf Nurejew.
Eine Schrift für Tanz
Das wichtigste Konvolut ist aber die jüngste Schenkung: der Nachlass von Sigurd Leeder (1902-1981). Leeder, einer der Begründer des Ausdruckstanzes in Deutschland, emigrierte 1934 in die Schweiz.
Im Archiv finden sich Kostüme, Masken, Entwürfe, rund 8'000 Fotografien und fast 150 audiovisuelle Dokumente. Und: Leeders Notationen.
Der Pädagoge benutzte die sogenannte Labanotation, eine Schrift, die der Tänzer und Choreograph Rudolf von Laban erfunden hatte, entwickelte diese weiter und lehrte sie all seinen Schülerinnen und Schülern.
Vergangenes wieder hervorholen
Beate Schlichenmaier ist fasziniert: «Das ist eine Rarität, denn es ist ganz selten, dass eine Choreographie, wenn es denn überhaupt eine Notation gibt, noch während des Entstehungsprozesses aufgeschrieben wird. Leeder tat dies. Zudem haben wir seine Filmaufnahmen. Beides zusammen ergibt ein umfassendes Bild, wie seine Etüden und Choreographien einst ausgesehen haben.»
Notieren lernen dauert Jahre
Leeders Notationen sind die einzigen im Schweizer Tanzarchiv, denn hierzulande arbeiten alle Kompanien lediglich mit Videos und mündlicher Überlieferung. Im Gegensatz z.B. zu England. Dort wird nicht die Labanotation verwendet, sondern die Benesh Movement Notation. Um diese schreiben und lesen zu können, muss man ein zweijähriges Studium absolvieren.
Mit ihr arbeiten auch das Royal Ballet in London und das Stuttgarter Ballett. Companien von dieser Grösse leisten sich Expertinnen und Experten, sogenannte Choreologinnen und Choreologen, die die Stücke akribisch festhalten.
Möglichst viel Wissen retten
Da in der Schweiz, unter anderem wegen fehlender finanzieller Mittel, keine Partituren angefertigt werden, sammelt, konserviert, katalogisiert, archiviert und digitalisiert das Schweizer Tanzarchiv nicht ausschliesslich, sondern geht auch aktiv auf Tanzschaffende zu und führt mit ihnen Interviews durch.
«Für uns ist es wichtig, möglichst viele verschiedene Materialien zu haben, denn den Gegenstand ‹Tanz› haben wir ja schlicht und einfach nicht. Spuren jeglicher Art sind wertvoll, vor allem auch schriftliche: persönliche Notizen, aufgeschriebene Gedanken», erklärt die Co-Direktorin Beate Schlichenmaier.
Vor der Mulde bewahren
Trotz aller Bestrebungen geht nach wie vor Wissen verloren und noch immer muss sich das Schweizer Tanzarchiv darum bemühen, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.
«Die Hauptgründe, warum Sammlungen abhandenkommen», erklärt Schlichenmaier, «sind die Unkenntnis von deren Wert, aber auch Unachtsamkeit. Es passiert immer wieder, dass wir einen Anruf bekommen und von Erben eingeladen werden, schnell noch eine Sammlung zu inspizieren, bevor am nächsten Tag der Muldenservice kommt.»
Sendung: SRF 1, Kulturplatz, 1.3.2017, 22:25 Uhr