Die Weltuntergangsuhr steht auf 100 Sekunden vor zwölf. Zum Ticken gebracht hatten sie Atomphysiker wie Albert Einstein bereits 1947. Mit der Uhr wollte das «Bulletine of the Atomic Science» den Menschen die Gefahr eines Atomkriegs vor Augen führen. Die Warnung der Wissenschaftler: Es ist fünf vor zwölf.
Die Angst vor der atomaren Gefahr und einem Dritten und damit letzten Weltkrieg prägte das Lebensgefühl ganzer Generationen im Kalten Krieg. Die christlich evangelikale Bewegung mobilisierte sich im «moral rearmament» gegen den Kommunismus. Und manch eine sah in Stalin den Antichrist gekommen.
Biden als Antichrist
Vieles von dem poppt aktuell in rechtsevangelikalen US-Kreisen wieder auf, wenn dort etwa «der linke» Joe Biden als Antichrist diffamiert wird. Daran anknüpfende Weltverschwörungsmythen feiern in Bewegungen wie QAnon Urständ, inklusive Antisemitismus.
Ihren tickenden Atomkriegswecker nannten die Atomphysiker «Doomsday Clock». «Doomsday» heisst übersetzt «Tag des Jüngsten Gerichts». Das wiederum tippt die christliche Vorstellung vom Endgericht an.
Der Glaube, dass Christus dereinst wiederkomme und Gericht halten werde, ist tief im Christentum verankert. «Dein Reich komme», heisst’s im «Unser Vater». Und im apostolischen Glaubensbekenntnis steht: «Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.»
Die Bilder vom Endgericht und von den Katastrophen, die dem vorauseilen sollen, haben sich tief im kollektiven Gedächtnis eingeprägt. Vor allem die negativen. Ein Blick ins Endzeitkino beweist’s.
Stilbildend bleibt Dichter Dante Alighieris «La divina commedia» aus dem 13. Jahrhundert. Seine Beschreibungen der Hölle – des «inferno» – werden bis heute in Katastrophen-Blockbustern zitiert. Dantes Himmel nicht!
Kunst und Kino können sich mit Bildern von Höllenschlund und Feuersbrunst so richtig austoben. Grusel ist leider attraktiver als himmlische Freuden. Das Positive wird vergessen. Also der Himmel, die Auferstehung der Toten, die Gemeinschaft der Menschen mit Gott, Gerechtigkeit und Frieden, reparierte Schöpfung («die neue Erde») und das viele mehr, was christliche Hoffnung mit dem Kommen Christi und Reich Gottes hauptsächlich verbindet.
Die Macht des Negativen
Dass das Negative im kollektiven Gedächtnis überwiegt, missfällt heutigen Theologinnen und Theologen. Sie schlagen sich mit einem jahrhundertealten Erbe kirchlicher Drohpredigten herum. Schliesslich hatte sich die mittelalterliche Kirche den Freikauf von Höllenqualen ja teuer bezahlen lassen. Und auch deren grösster Kritiker, der Reformator Martin Luther, glaubte an den Antichristen und daran, dass die Endzeit nahe sei.
An diesem angstmachenden Erbe kirchlicher Verkündigung arbeitet sich auch der evangelisch-freikirchliche Prediger Roland Hardmeier ab. Er will, dass das Evangelium als Frohbotschaft und nicht als Drohbotschaft erfahren wird. Christliche Existenz entfalte sich im Horizont des Kommens Christi und des Reiches Gottes. Das sei eine Hoffnung für heute und keine Angst vor morgen, so Hardmeier.
Nicht Angst, sondern Hoffnung
Hoffnungsbetont schreibt auch der täuferische Theologe Lukas Amstutz in einem Artikel. Schliesslich sei Christus ja gekommen, die Welt zu erlösen und nicht zu zerstören. Und der langjährige SRF-Radioprediger Lukas Amstutz betont: Bei der christlichen Hoffnung auf den «Advent» geht es nicht um Angst, sondern um einen Motor, der zu gutem Leben bewegt, in Liebe und Solidarität.
Der Friedenstheologe Amstutz schreibt: «Wer mit der christlichen Hoffnung lebt, erwartet nicht ein von Menschen herbeigeführtes Friedensreich. Ebenso wenig angemessen ist der bange Blick auf das Weltgeschehen, um zu spekulieren, wie lange es noch bis zu dem angeblich gottgewollten Kollaps dauert. Die christliche Hoffnung lebt von den Verheissungen Gottes und dem, was daraus werden kann und wird.»
Apokalypse bedeutet nicht Weltuntergang
Seine reformierte Kollegin Luzia Sutter-Rehmann unterstreicht: «Gott will die Zerstörung nicht!» Die Professorin will vor allem aufklären. In ihrem Onlinevortrag erklärt sie: «Apokalypse heisst nicht Weltuntergang!». Das letzte Buch der christlichen Bibel sei vielmehr die religiöse Verarbeitung erfahrenen Leids unter dem Imperium Romanum.
«Apokalypse heisst auf Griechisch: Offenbarung, Aufdeckung, Entlarvung», sagt Sutter-Rehmann. Die Johannes-Apokalypse sei also kein Endzeitfahrplan, sondern ein Trost- und Aufklärungsbuch. Für die Theologin ist es darum die gemeinsame Pflicht von Kirche, Kunst und Naturwissenschaft, Missstände wie die Erderwärmung aufzudecken und darüber aufzuklären.
Keine Endzeit von der Kanzel
Anders als im Mittelalter und während der Reformation werde heute weder von landeskirchlichen noch von freikirchlichen Kanzeln die Endzeit herbeigepredigt, beteuert der freikirchliche Theologe Roland Hardmeier. Akuter «Naherwartung» begegne er in freien evangelischen Gemeinden der Schweiz höchst selten.
Weltuntergangsängste, gemixt mit Verschwörungsmythen, seien vielmehr in digitalen Blasen anzutreffen. Das habe auch mit der Isolation solcher Leute zu tun, die mehr «in der digitalen Kirche» als unter realen Christen unterwegs seien.
Fliessende Grenze zu Rechtsradikalen
In rechtsevangelikalen, rechtskatholischen und manchen pfingstlerischen Kreisen in den USA sieht das anders aus. Dort werden «die Zeichen der Zeit» als «Endzeitwehen» gedeutet. Dazu gehören neben der Pandemie auch «Christenverfolgungen» und angebliche Dekadenzerscheinungen. Hier ist der Übergang zu rechtsradikalem Denken fliessend.
Denn was den «Zerfall» unseres Zeitalters anzeige, seien Abtreibung, Homosexualität, generell «Gender» und Feminismus, sind «die» Muslime und natürlich «die» Juden. Ein Blick auf die deutsche Website kath.net reicht, um zu sehen, dass auch hier Homophobie, Gynophobie, Islamophobie und Antisemitismus vertreten und mit dem Untergang verknüpft werden.
Sie alle eint eine überaus negative Weltsicht. Auch dem möchte Prediger Roland Hardmeier eine positive Schöpfungstheologie entgegenhalten. Doch in die abgeschotteten Blasen von Endzeitfanatikern einzudringen oder gar einzuwirken, ist schier unmöglich. Dies zeigen auch die tragischen Fälle von Endzeitsekten der letzten Jahrzehnte.
Sonnentempler überlebten die Endzeit nicht
Dem Weltuntergang entfliehen zu wollen, kann tödlich enden. Das stellten die «Sonnentempler» in den 1990er-Jahren traurig unter Beweis. Das Auftreten des Kometen Hale Bopp und die nahende Jahrtausendwende nahmen 74 «Sonnentempler» zum Anlass, sich selbst umzubringen.
Diese Massenselbsttötungen – unter anderem auch in der Schweiz – schockierten die Welt, fanden aber schon 1997 in den USA Nachahmung. Im «Heaven’s Gate» sammelte sich eine ufologische Sekte, um mitgenommen zu werden von einem Raumschiff Ausserirdischer. Auch dort gingen Menschen in den Tod.
Demgegenüber nimmt sich «Uriella» geradezu harmlos aus. Die Sektenführerin errechnete als Medium zwei Weltuntergangsdaten, die aber wie die 1990er-Jahre verstrichen.
Esoterik, Nostradamus und Pseudowissenschaft
Eine besonders gefährliche Weltuntergangssekte war die Aum-Sekte, die 1995 durch einen Giftgasanschlag in der Tokyoter U-Bahn bekannt wurde. Deren Anführer Shōkō Asahara bezog sich ausdrücklich auf die Science-Fiction-Romane von Isaac Asimov und dessen «Doomsday-Maschine».
Sci-Fi-Sekten nennt man solche Gruppen darum auch. Die Mischung von Science und Fiction wurde bei der Aum-Sekte toxisch und tödlich. Typisch an Asahara war auch, wie er aus allen möglichen Lehren etwas zusammenmixte, von Yoga und Hinduismus über die jüdische Kabbala bis hin zur Johannesapokalypse.
Missbrauch von Naturwissenschaft und Bibel
Religionen, Bibel und Naturwissenschaften werden hier gleichermassen missbraucht. Extremistinnen und Extremisten ziehen sich aus Klimastudien ebenso wie aus der Apokalypse jene Verse, die in ihr Weltbild passen. Die kritischen Bibel- und Naturwissenschaften können das dann nur selten wieder einholen.
Solche Extremismen erklärt der Religionswissenschaftler Michael Blume als Angstreaktion auf den umfassenden Gesellschaftswandel, den wir gerade erleben. Neben Klimawandel und Digitalisierung nennt Blume auch: die zunehmende Säkularisierung und Multikulturalität wie auch den Wandel unserer Geschlechterverständnisse. All das verunsichere.
In seinem Buch «Rückzug oder Kreuzzug» (Patmos Verlag 2021) nennt Michael Blume das «die Angst vor dem Ende der Welt, wie wir sie kennen». Während einzelne also in Endzeitblasen abdriften oder sich rechtsradikalisieren, gehen andere mutig ins Neue. Sie richten sich im digitalen Zeitalter ein, sparen CO2, fahren Velo und hören auf, Fleisch zu essen.
Dass keiner den anderen mehr frisst, ist übrigens auch eine zentrale Hoffnung der Bibel. So stellt sie sich das Paradies vor.