Schon 1937 bezauberte die märchenhafte Stimme von Adriana Caselotti im ersten abendfüllenden Disney-Musical-Film «Snow White and the Seven Dwarfs». Seither haben Disney-Songs nur an Wichtigkeit gewonnen: 2021 landet der Hit «We Don’t Talk About Bruno» aus dem Film «Encanto» auf Platz eins der US-Charts. Was ist das Geheimnis der Disney-Songs?
Erst die Musik, dann die Comiczeichnung
Seit Beginn war es das Credo von Disney, dass die Musik nicht einfach auf die Filme «draufgepappt» wird, sondern eng mit der Handlung und dem Schauplatz verbunden ist. Man denke an den Film «The Aristocats» (1970), der von einer vornehmen Katzenfamilie handelt. Durch die Akkordeonklänge und romantischen Balladen weiss man auch ohne Bild: Wir sind in Paris. Der französische Akzent hilft natürlich auch.
Wir schreiben einen Song, der zum Film passen könnte. Und dann passen die Zeichner ihre Skizzen unserer Musik an.
Die Songs von «Aristocats» wurden von Robert und Richard Sherman geschrieben, die in den 1960er- und 1970er-Jahren viele grosse Disney-Hits komponierten. Die Zusammenarbeit zwischen den Komponisten und den Trickzeichnern war von Anfang an sehr eng.
Nicht selten hat sich das Bild an die Musik angepasst, nicht umgekehrt. «Wir schreiben einen Song, der zum Film passen könnte. Und dann passen die Zeichner ihre Skizzen unserer Musik an», erklären die Sherman-Brüder.
Entwicklung der Funktion
In den frühen Filmen wurde die Musik oft illustrierend verwendet. «Illustrierend heisst: Alles, was ich sehe und höre, wird mit Musik unterstrichen», erklärt die deutsche Filmwissenschaftlerin Britta Heiligenthal.
Läuft eine Figur im Film auf Zehenspitzen, wird jeder Schritt mit hohem Geigen-Zupfen oder zaghaften Bläsern unterlegt. Zum Beispiel in «Schneewittchen und die sieben Zwerge» (1937), als sich die Zwerge ins Zimmer der schlafenden Prinzessin schleichen. Diese Technik wurde in frühen Disney-Filmen so oft verwendet, dass die sie nun «Mickey-Mousing» genannt wird. Mittlerweile gilt die Technik als veraltet, sogar verpönt.
Gemütlicher Bär und sehnsüchtige Meerjungfrau
Ab den 1960er-Jahren rücken die Figuren der Filme bei den Disney-Songs in den Mittelpunkt. Balu, der Bär, besingt seine gemütliche Lebenseinstellung, Arielle, die Meerjungfrau, sehnt sich im Lied «Part Of Your World» nach der Welt über der Wasseroberfläche. Das Publikum bekommt einen Einblick in die Motivationen und Wünsche der Figuren und kann sich besser mit ihnen identifizieren.
Auch die Filmschauplätze werden in den Songs vorgestellt. Im Verlauf des kraftvollen Hits «Circle of Life» aus «The Lion King» (1994) lernen wir innerhalb von vier Minuten eine ganze Weltordnung kennen – und dazu alle wichtigen Figuren. Und das, bevor ein einziges Wort gesagt wurde.
Preisgekrönte Disney-Hits
Der erfolgreichste Disney-Komponist ist der Amerikaner Alan Menken. Er schrieb die Musik für «The Little Mermaid» (1989), «Beauty and the Beast» (1991), «Aladdin» (1992) und «Pocahontas» (1995) sowie etliche weitere Disney-Filme. Dafür erhielt er insgesamt acht Oscars.
Menken habe die Funktion der Musik weiterentwickelt, so die Filmwissenschaftlerin Heiligenthal: «Er hat häufig die Filmhandlung durch die Musik weitergeführt. Im Verlauf eines Songs entscheidet sich beispielsweise Belle, dass sie aus ihrem bekannten Territorium heraustreten möchte. Es werden also wichtige dramaturgische Momente verhandelt.»
Texte passen sich dem Zeitgeist an
Menken schrieb auch die Musik für den neuen Realfilm «The Little Mermaid» (2023). Dieser vertieft sich eindeutig in die karibischen Klänge, die zuvor nur im Song «Under the Sea» vorkamen. «Der animierte Film hatte keinen klaren Schauplatz. Ich wollte die Handlung klar an eine Zeit und einen Ort binden», erklärt der Regisseur des Films, Rob Marshall.
Wer den alten Film gut kennt, merkt auch: Manche Songtexte wurden angepasst. Die Seehexe Ursula möchte Arielles Stimme für sich und singt im originalen Film darüber, dass für Frauen eine Stimme gar nicht so wichtig sei – Arielle sei ja hübsch genug. Diese ganze Strophe wurde aus dem neuen Film gestrichen, um jungen Mädchen nicht den Eindruck zu geben, ihre Stimme sei unwichtig.
Auf diese Weise wurden bereits mehrere Disney-Songs von Menken für Neuverfilmungen angepasst. «Man zeigt diesen Film einem neuen Publikum und möchte dem auch gerecht werden. Wir haben Stellen gesucht, an denen man kleine Anpassungen machen konnte, um den heutigen sozialen Standard besser zu reflektieren», ordnet Menken die Massnahme ein.
Codes, Klischees, miese Charaktere
Immer wieder kamen in Disney-Filmen Stereotype und rassistische Vorurteile vor. Bösewichte wurden beispielsweise oft negativ kodiert oder «gequeercoded», hatten dunklere Haut und schmalere Augen als die Heldinnen und Helden der Filme. Die Implikation: Diese Attribute stünden in direktem Zusammenhang mit ihrem schlechten Charakter.
Solche Stereotype finden sich auch in der Musik und den Songtexten. Obwohl viele Filme in nicht westlichen Kulturen und Ländern spielen und sich deren Klangwelt bedienen, wurde die Musik fast ausschliesslich von weissen Männern komponiert.
Tonangebende Stereotype
Das berüchtigtste Beispiel ist der Song vom Affenkönig Louie aus «The Jungle Book» (1967). Benannt ist er nach dem Jazzmusiker Louis Armstrong, doch es war der weisse Sänger Louis Prima, der ihm seine Stimme verlieh.
Während fast alle Tiere im Dschungel einen gediegenen englischen Akzent haben, sprechen King Louie und seine Affen einen stereotypisch «afroamerikanischen Akzent» aus dem Süden der USA. Und der Song ist im New-Orleans-Jazz Stil-geschrieben, einer vorwiegend afroamerikanischen Musik.
In den USA der 1960er-Jahre wurden die Affen im Dschungelbuch eindeutig als Afroamerikaner kodiert – eine Assoziation, die einen direkten Rassismus darstellt. Umso problematischer ist es, dass King Louie davon singt, ein Mensch wie Mogli sein zu wollen.
Ein Wandel zum Besseren?
Mittlerweile hat Disney auf seiner Streaming-Plattform vor einigen Filmen einen Disclaimer hinzugefügt: «Dieses Programm enthält negative Darstellungen und/oder eine nicht korrekte Behandlung von Menschen oder Kulturen. Diese Stereotype waren damals falsch und sind es noch heute.»
Dieser Disclaimer ist ein Teil der «Stories Matter»-Initiative des Konzerns, der auf Rassismus und andere Vorurteile in seinen Filmen aufmerksam machen soll.
Heute geht Disney die Darstellung von Menschen und Kulturen in der Musik sorgfältiger an. Für den Film «Moana» (2016), der auf einer polynesischen Insel spielt, wurden Expertinnen und Experten aus verschiedenen polynesischen Ländern mit einbezogen. Auch die Schauspielerinnen und Schauspieler haben allesamt polynesische Wurzeln.
Die umfassende Recherche und Sorgfalt bei der Abbildung dieser Kulturen fühlt man auch in der Instrumentation und den Texten der Musik, die zum Teil auch auf Samoanisch und Tokelauisch geschrieben sind.
Zauberformel für den Erfolg
Spätestens seit «A Whole New World» aus «Aladdin» 1993 auf Platz eins der amerikanischen Charts landete, benutzt Disney auch die Songs, um die eigenen Filme zu vermarkten. Vermehrt setzt der Konzern Stimmen von Prominenten für ihre Charaktere ein, darunter auch Musical-Grössen wie die «Queen von Broadway», Idina Menzel. Ihr Song «Let It Go» wurde ein weltweiter Hit.
Am besten kommen Songs an, mit denen man sich über den Film hinaus identifizieren kann, so Britta Heiligenthal: «Es geht darum, Mut zu machen, jedem Menschen aus dem Leben zu sprechen. Und das sind ganz allgemein gültige Wahrheiten, die Zeit und Raum überdauern.» Deshalb ist es gewissermassen eine Überraschung, dass ausgerechnet «We Don’t Talk About Bruno» der grosse Hit von «Encanto» wurde.
Denn obwohl er mit seinen lateinamerikanischen Rhythmen ganz im Zeitgeist der heutigen Popmusik steht, ist der Song kein klassischer Disney-Hit. Die Figuren singen durcheinander und es geht um einen sehr filmspezifischen Inhalt. Und doch: Der Song ging auf Tiktok viral und wurde zum zweiten Disney-Song, der Platz eins der amerikanischen Charts erreichte.