Sie hat keine finanziellen Sorgen. Ihr Partner ist kein Schläger. Und trotzdem nimmt Diane Reissaus aus der Entbindungsstation in Zürich, lässt ihr Neugeborenes hinter sich und flieht ins südliche Ausland.
Es ist, als hätte sie das Geschrei des Säuglings abrupt an die anstehenden Verpflichtungen gemahnt und sie in Panik versetzt.
Das ist ungewöhnlich, selbst für ein psychologisches Filmdrama: Dass die Hauptfigur Hals über Kopf vor ihrer wichtigsten Verantwortung davonrennt. Man denkt sich erst einmal: Wie kann sie nur? Wie soll ich dieser Figur nun folgen, wenn sie gleich zu Beginn etwas tut, dass ich nicht gutheissen kann?
Klingende Namen
«Les paradis de Diane» ist ein Film von Carmen Jaquier und Jan Gassmann. Beides junge, aber etablierte Namen in der Schweizer Filmbranche – mit viel internationaler Festivalpräsenz und diversen Auszeichnungen. «Foudre», Jaquiers erster langer Spielfilm, wurde letztes Jahr in Solothurn ausgezeichnet und von der Schweiz für die Oscars eingereicht.
«Foudre» erzählt von einer jungen Frau, die ihre erwachende sexuelle Lust nicht in Einklang mit ihrer streng religiösen Erziehung bringen kann – eindeutig ein Opfer ihrer Umstände. In «Les paradis de Diane» ist das anders: Dieser Film handelt von einer schwer greifbaren Antiheldin, die vor sich selbst flüchtet.
Weg vom Kind – und nun?
«Les paradis de Diane» verstört, weil er nicht die Stärken, sondern die Schwächen der Hauptfigur herausstreicht. Wird Diane, allein in der Fremde, von Gewissensbissen geplagt? Zuerst wirkt es nicht so. Zu schaffen machen ihr eher die überschüssige Muttermilch und die Angst, ihre Vergangenheit könnte sie einholen. Diane macht Zufallsbekanntschaften und lässt sich auf sexuelle Abenteuer ein.
Postpartale Depression hin oder her: Es fällt schwer, Sympathie für diese Figur zu entwickeln. Aber genau das scheint das Programm des Films zu sein: Er fordert vom Publikum möglichst viel Einfühlungsvermögen für eine Frau, die sich planlos in ein völlig neues, nur vermeintlich paradiesisches Leben stürzt. Und dieses dann eher schlecht als recht meistert.
«Les paradis de Diane» ist ein fordernder Arthouse-Film: Er stellt wichtige Fragen zu einem cineastisch selten behandelten Thema und gibt unbequeme Antworten darauf – oder gar keine. Eingebettet ist die Geschichte in eine impressionistische Ästhetik, die weniger auf Realismus abzielt als auf die Sichtbarmachung von Innenwelten.
Ein idealer Festivalfilm
Ein Massenpublikum wird der Film kaum anlocken, wenn er im März in den Schweizer Kinos läuft. Das ist auch nicht seine Absicht. Er will vor allem an diejenigen Orte hin, wo sich ein Publikum mit erhöhter Irritationsbereitschaft trifft: an Filmfestivals.
Als Eröffnungsfilm der Solothurner Filmtage steht er dafür, dass in der Schweiz zwischen hochwertigen Dokus und publikumsnahen Spielfilmen auch Platz sein muss für anspruchsvolle Fiktionen und das Wagnis zum Experiment.
In der nun anstehenden Panorama-Sektion der Berlinale – wo Irritation zum Programm gehört – wird er die Schweiz im Februar würdig vertreten.
Kinostart: 21. März 2024