Berühmt, aber nahezu unbekannt: US-Starautor J.D. Salinger («The Catcher in the Rye») lebte zeitlebens extrem zurückgezogen. Kein Wunder, stürzten sich die Leser auf ein Buch, das unbekannte Einblicke versprach: «My Salinger Year» (2014) von Joanna Rakoff wurde zum Bestseller.
Verfilmte Memoiren
Darin blickt Rakoff auf das Jahr 1996 zurück, in dem sie als Assistentin einer New Yorker Literaturagentin die Fanpost an den Autor mit Standardbriefen beantworten musste. Diesen Memoiren hat sich nun der kanadische Filmemacher Philippe Falardeau angenommen: Gestern Abend eröffnete er mit «My Salinger Year» die 70. Berlinale.
Der Film erzählt von den Ambitionen und Träumen junger Menschen: von der Faszination einer 23-Jährigen für New York und den endlosen Möglichkeiten, welche die Stadt verspricht.
Joanna Rakoff wird gespielt von Andie McDowells Tochter Margaret Qualley. Eben noch hat sie als Manson-Hippie ihre schmutzigen Füsse aufs Dashboard von Brad Pitts Auto gelegt, in Quentin Tarantinos «Once Upon a Time in Hollywood». Bei Falardeau trägt sie nun den ganzen Film: ziemlich souverän, insbesondere im Duett mit Sigourney Weaver, die ihre Chefin spielt.
Mit dem leichten Zucken eines Mundwinkels
Das fängt damit an, dass die junge Joanna zu Beginn des Films direkt in die Kamera spricht: Sie umreisst ihre Situation und ihre Träume und markiert damit bereits eine retrospektive Distanz zu dem, was kommt.
Das ist eine schauspielerische Leistung: mit dem leichten Zucken eines Mundwinkels gleich vorweg infrage zu stellen, was diese Joanna danach an Träumerei, an Mut und an Verzagtheit überzeugend durchleben wird.
Ein wirkungsvoller Kniff
Die junge Frau ist von einzelnen Briefen an Salinger so gerührt, dass sie diese auf eigene Faust beantwortet – statt sie pflichtbewusst zu schreddern und mit standardisierten Hinweisen auf Salingers Weigerung, Fan-Post zu erhalten, zu beantworten. Das ist auch deshalb so berührend, weil Philippe Falardeau den einfachen, aber wirkungsvollen Kniff anwendet, die Briefe-Schreiberinnen und -Schreiber selbst zu zeigen – in Joannas Imagination.
Dies verhindert allerdings nicht, dass eine dieser Schreiberinnen ausgesprochen wütend und real im Agenturhaus erscheint und Joannas gut gemeinte Aktion als böse Arroganz bezeichnet.
Computer vs. Dateikarten
Es sind solche Kontraste, welche «My Salinger Year» zu einem echten Vergnügen machen. Sigourney Weavers gestrenge Literaturagentin ist das Zerrbild dessen, was aus Joanna hätte werden können. Joanna wiederum ist für die ältere Frau ein Spiegel des Verpassten.
Dass die beiden trotz allem nicht Antagonisten sind, sondern sich zunehmend mögen und verstehen, das gehört zu den wirklich schönen Zügen dieses Films.
Und dann ist da noch der Geist einer althergebrachten traditionellen Literaturagentur, die den aufkommenden Computern trotzt und mit Karteikarten, Schreibmaschinen und Diktiergeräten einen Hauch von kultivierter, leicht dekadenter Arroganz verbreitet.
Eine starke Berlinale-Eröffnung
«My Salinger Year» ist ein gelungener Mix aus Coming-of-Age und Nostalgie für eine Welt, in welcher «The New Yorker» noch das Mass aller literarischen Ambitionen darstellte. Eine schöne Eröffnung für diese 70. Berlinale, deren Wettbewerb noch harte Kost verspricht.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 21.02.2020, 7:20 Uhr