SRF: Sie sind seit 15 Jahren Teil dieses Festivals. Wie hat es sich in dieser Zeit verändert?
Carlo Chatrian: Es ist, wie wenn man ein Kind aufwachsen sieht. Erst aus der Entfernung sieht man, dass es gewachsen ist. Wenn man ihm Tag für Tag folgt, scheint es immer gleich.
Wenn ich zurückdenke, dann hat sich das Festival stark verändert. Neue Orte wie die Rotonda, die Locarno Gardens und gewisse Säle gab es damals nicht.
Auch die Programmierung war etwas anders. Wir zeigen jetzt weniger Filme und haben mehr Sektionen. Was geblieben ist, ist die Lust, neue Stimmen des Kinos zu entdecken.
Wird diese Entwicklung weitergehen – weniger Filme, mehr Sektionen?
Ich glaube nicht, dass wir in Zukunft weniger Filme haben. Denn wir müssen ein vielfältiges Programm anbieten.
Auf der anderen Seite gibt es vielleicht Dinge, die heute nicht zum Festival gehören oder nur eine marginale Rolle spielen – ich denke da zum Beispiel an «Virtual Reality».
Es ist interessant zu sehen, wie solche neuen Mittel unsere Art zu sehen beeinflussen. Derzeit haben wir nur einen kleinen Bereich mit VR. Vielleicht wird das mal eine eigene Sektion.
Ein grosse Herausforderung, der sich auch jedes Festival stellen muss, ist die Digitalisierung des Films. Sehen Sie sie als Chance oder als Gefahr für Locarno?
Es ist mir wichtig, Filme analog zu zeigen. Heute werden Filme in digitalen Verfahren gemacht. Dadurch hat das Kino seine Sprache verändert. Und sie wird sich weiter verändern.
Davor habe ich keine Angst. Natürlich, man verliert Dinge. Aber man gewinnt andere. Ich hoffe aber, dass das Kino weiterhin eine Kunst ist, die für ein Kollektiv gemacht ist – und nicht für Individuen.
Welche Rolle spielen die neuen Gebäude, das PalaCinema und das GranRex, für das Festival?
Das GranRex ist ein renovierter Saal, den es schon vorher gab. Die Neuheit ist hier, dass wir jetzt einen perfekt ausgerüsteten Saal haben.
Beim PalaCinema ist das ganz anders – da haben wir drei neue Säle. Das ist wichtig für die Infrastruktur, aber auch als Signal, das die Stadt Locarno gibt. Den Nutzen dieser Säle werden wir erst bei der nächsten Ausgabe entdecken. Als wir die Programmierung gemacht haben, existierten die Säle noch nicht.
Das Festival kümmert sich immer mehr um die Jugend. Welchen Nutzen hat deren Perspektive für das Festival?
Das ist sehr wichtig. Es gehört zur Weitergabe des Festivals. Das Festival muss sich in seiner Programmierung erneuern. Das kann man nur, wenn sich auch das Publikum erneuert.
Wir haben viel daran gearbeitet, unsere Ausbildungsprogramme, die «Summer School» zu verbessern. Dazu gehören zum Beispiel Programme für Filmemacher, Dokumentarfilmer oder Filmkritiker. Ich glaube, dass es hier ein enormes Potential gibt.
Marco Solari hat in einem Interview gesagt: «Das Festival ist dazu verdammt, jedes Jahr besser zu werden.» Spüren Sie diesen Druck?
Ich würde nicht das Wort «verdammt» benutzen. Denn für mich ist es ein Vergnügen. In meinem Leben bin ich immer ein wenig unzufrieden mit mir selbst.
Auf der einen Seite ist das ein wenig schade, auf der anderen gibt das Elan für Verbesserung. Es wäre traurig, wenn man sagen müsste: «Wir können nichts mehr machen, wir sind bereits auf dem Höhepunkt.»
Was heisst das denn für Sie – besser werden?
Es geht mir darum, immer die besten Filme zu haben. Immer ein Programm zu haben, das so reich, überraschend und vielfältig wie möglich ist.
Jedes Jahr sage ich: Das nächste Programm machen wir, um das vorherige zu schlagen. Das gibt einen grossen Druck. Für mich war die erste Ausgabe das Paradies. Danach bemerkst du Schritt für Schritt kleine Dinge, die nicht funktionieren. Hier muss man Hand anlegen, um besser zu werden.
Das Gespräch führte Andres Hutter.