Filme auf der Piazza Grande zu sehen, ist grosses Kino. Doch sogar in Locarno, wo dieses Mantra seit jeher gebetsmühlenartig verbreitet wird, wächst der Zweifel: Ist der Platz vor der Leinwand überhaupt noch der Ort, wo Filme gesehen werden? Oder gilt im digitalen Zeitalter längst das Credo: «Streaming killed the movie star?»
Diese Riesen könnten das Geschäft vermiesen
Fakt ist: Die wachsende Popularität von Streaming-Diensten macht Lichtspielhäusern und Festivals arg zu schaffen. Netflix und Amazon laufen dem klassischen Kino immer mehr den Rang ab. Locarno liess es sich dennoch nicht nehmen, die Führungskraft eines Streaming-Giganten auszuzeichnen: Ted Hope, den Spielfilm-Verantwortlichen von Amazon.
Der Mann, der in den 1990er-Jahren einst Independent-Hits wie Ang Lees «The Ice Storm» produziert hatte, ist sich sicher, dass Streaming-Dienste dem Kino längerfristig mehr nützen als schaden.
«Ich glaube fest daran, dass die Kino-Ära, die nun beginnt, alles Bisherige in den Schatten stellt. Die Qualität der Filme wird durch die neuen Anbieter besser. Dasselbe gilt für das Erlebnis, Filme zu sehen und zu drehen. Was die Zukunft des Kinos betrifft, bin ich voller Hoffnung.»
Knackpunkt Erstverwertung
Hopes Hoffnung fusst auf dem kinofreundlichen Geschäftsmodell seines Arbeitsgebers. Amazons Filmproduktionen werden zuerst in Lichtspielhäusern gezeigt, bevor sie auf der eigenen Streaming-Plattform landen.
Bestes Beispiel: das Oscar-prämierte Drama «Manchester by the Sea». Der Amazon-Hit spülte fast 80 Millionen Dollar in die Kinokassen, bevor er legal gestreamt werden konnte.
Netflix umgeht dagegen die Kinobetreiber: Der Flatrate-Anbieter produziert exklusiv für seine Abonnenten. Wenn sich dieses Modell durchsetzt, könnte sich Streaming tatsächlich als Kino-Killer entpuppen.
Streaming Wars
Netflix und Amazon sind allerdings nicht die einzigen Streaming-Anbieter, welche die Zukunft des Kinos beeinflussen werden. Für Ted Hope hat das Zeitalter der Streaming-Plattformen erst gerade begonnen:
«Wir stehen am Anfang einer Phase, die manche Leute den Krieg der Streaming-Dienste nennen. Schon bald werden viele neue Anbieter in den globalen Markt eindringen. 13 grosse Firmen aus der Unterhaltungsbranche haben bereits angekündigt, dies zu tun. Fürs Publikum und die Filmemacher ist das eine grossartige Sache.»
Die Lichtspielhäuser schlagen zurück
Die meisten Schweizer Kinobetreiber fürchten sich derweil vor der Zukunft. Viele fühlen sich vom Streaming bedroht und rüsten auf, um dem Zuschauerschwund entgegenzuwirken. Zum Beispiel, indem sie die Seitenwände ins Seherlebnis miteinbeziehen: Mit dem 270-Grad-Projektionsverfahren Screen X, das seit Kurzem in Zürich, Genf und Freiburg Schaulustige in seinen Bann zieht.
Doch nicht nur audiovisuelle Verbesserungen stehen derzeit im Raum, um das Kino als Erlebnisort wieder attraktiver zu machen. Ebenfalls eine Option: sogenannte Dine-In-Theatres. Dinieren beim Visionieren. Der typisch amerikanische Versuch, Kino mit dem Konsum kulinarischer Köstlichkeiten zu kombinieren. Bald auch in unseren Sälen?
Bereits jetzt im Angebot: Spezialvorführungen für frischgebackene Eltern, die ihre Babys mit in den Kinosaal nehmen wollen. Die Kinokette Pathé vermarktet das Ganze als «Nuggi-Kino». Damit der Film die zarten Sinne der Neugeborenen nicht überreizt, wird der Ton etwas heruntergeregelt und das Licht gedimmt. Im Foyer stehen zudem ein Wickeltisch, sowie eine Mikrowelle fürs Aufwärmen von Babynahrung.
Mehr Cinephilie war nie
Einen völlig anderen Weg aus der Kinomisere bietet Andreas Furler, Gründer der neuen Website Cinefile. Diese versucht Unerhörtes: Die vermeintlichen Erzfeinde Streaming und Kino unter einen Hut zu bringen.
Unter dem Stichwort «Kino» kann der Schweizer User nach Infos suchen und Tickets buchen. Während unter dem Reiter «Streaming» eine Auswahl sorgfältig kuratierter Filme zu finden ist.
Damit zollt Furler dem Umstand Tribut, dass der Cinephile von heute meist beides tut. Mal streamt er, mal geht er ins Kino: «Im digitalen Zeitalter sind wir alle Pendler geworden. Neue Filme, die uns reizen, schauen wir weiterhin möglichst rasch im Kino. Aber noch häufiger kommen wir nach einem Arbeitstag nach Hause und wollen etwas streamen. Manchmal nur Musik, manchmal gleich einen ganzen Film, online.»
Freunde der Leinwand dürfen hoffen
Streaming soll die Lichtspielhäuser also nicht ablösen, sondern eine weitere Generation fürs Kino begeistern. An einer Zukunft, in der Filme nur noch via App konsumiert werden, ist in Locarno jedenfalls kaum jemand interessiert. Auch Amazon-Schwergewicht Ted Hope schaut sich seine Filme am liebsten auf der grossen Leinwand an:
«Alleine Filme zu gucken, ist nicht mein Ding. Zwei oder drei Freunde reichen mir ebenfalls nicht. Ich mag riesige Säle mit fetten Leinwänden für ein richtig grosses Publikum. Es ist so ansteckend, wenn jemand lacht, sogar wenn man selbst den Gag nicht witzig fand. Oder wenn jemand weint, der direkt neben einem sitzt. Das ist alles Teil der Erfahrung.»
Und Cinefile-Gründer Andreas Furler ergänzt: «Um Filme zu schauen, ist das Kino unschlagbar. Weil es ein Ort der Konzentration und der sozialen Zusammenkunft ist. Streaming ähnelt dagegen einem Fussballspiel vor leerer Kulisse. Das lässt sich schlicht nicht vergleichen.»
Ein Abgesang klingt zum Glück anders. Darum: Lang lebe der Erlebnisort Kino!
Sendung: SRF 1, Filmfestival Locarno 2018 - Das Spezial, 8.8.2018, 22:25 Uhr.