Bereits die Brille und die Uhr deuten auf seinen neuen Job hin. Beide Accessoires, die Giona A. Nazzaro trägt, spielen mit den Farben des Locarno Filmfestivals: gelb und schwarz. Das sei keine Absicht gewesen, beteuert der neue künstlerische Direktor des Festivals, das am Mittwoch begann. Er habe diese Dinge bereits besessen, bevor er von seiner neuen Aufgabe wusste.
Für die künstlerische Leitung des internationalen Filmfestivals Locarno habe sich Nazzaro nicht bewerben müssen. Der langjährige Festivalpräsident Marco Solari hat ihn geholt, nachdem seine Vorgängerin Lili Hinstin das Amt nach zwei Festivalausgaben überraschend früh wieder loswurde.
Geboren wurde Nazzaro 1965 in Zürich, aufgewachsen ist er in Dübendorf. Schweizerdeutsch ist die Sprache, mit der er sich «als erstes hundertprozentig familiär fühlte», zur Verzweiflung seiner italienischen Mutter. Anfang der 1980er-Jahren zog die Familie zurück nach Italien. Auch heute lebt Nazzaro vorwiegend in Rom, seit diesem Jahr ausserdem in Locarno.
Aus dem Hintergrund auf die grosse Bühne
Bis vor kurzem zeichnete er für die Sektion der Internationalen Filmkritiker-Woche des Filmfestivals von Venedig verantwortlich. Zudem arbeitet Nazzaro bereits seit Jahren – wenn auch im Hintergrund – für das Filmfestival in Locarno.
«Für mich ist Locarno das Kinofestival par exellence», sagt Nazzaro. «Hier kommen mehrere Elemente zusammen: Die Qualität des Programms, des Lebens und der Zeit. In Locarno kann man sich auf die Filme einlassen, sich vertiefen, mit den Regisseuren sprechen, ohne hetzen zu müssen.»
Vorliebe für Actionfilme
Ein Blick ins Programm, das Nazzaro beispielsweise für die Piazza Grande zusammengestellt hat, verrät zwei Dinge über den neuen Festivaldirektor: Zum einen mag er Actionfilme, sodass knapp die Hälfte der 16 programmierten Filme einiges an Verfolgungsjagden, Schiessereien, Explosionen und Nahtoderlebnissen zu bieten hat.
Zum anderen wurde seine Liebe fürs Kino vor allem durch die 80er- und 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts geprägt. So beschert uns eine restaurierte Fassung des Thrillers «Heat» von Michael Mann aus dem Jahr 1995 ein Wiedersehen mit Robert De Niro und Al Pacino.
Dazu gesellt sich Arnold Schwarzenegger als «Terminator», allerdings ohne das berühmte «Hasta la vista, Baby», da auf der Piazza Grande lediglich der erste Teil der Trilogie gezeigt wird, zu Ehren der Produzentin Gale Ann Hurd.
Die Vorführung von «National Lampoon's Animal House» von John Landis, der am Festival einen Ehrenleoparden entgegennimmt, liegt Nazzaro besonders am Herzen: «Dieser Film ist eine Hymne auf Menschen, die denken, dass sie keinen Platz in der Gesellschaft hätten, die denken, sie seien nicht cool genug. Als ich ein Teenager war und John Belushi als Held sah – also einen Mann, der körperlich überhaupt nicht den gängigen Vorstellungen entspricht, da hatte ich das Gefühl, dass mir dieser Film persönlich etwas sagt.»
Mehr als «Bubenkino»?
Das Vergnügen steht für Nazzaro weit vorn, wenn es um die Auswahl von Filmen geht. Das wichtigste Kriterium: Die Filme müssen ihm gefallen. «Ich bin nicht nur cinephil, ich bin cinéphage. Ich weiss nicht, wie ich es übersetzen soll – es bedeutet: Ich esse Filme.»
Von 16 Piazza-Filmen werden nur zwei von Regisseurinnen beigesteuert. Auch im internationalen Wettbewerb sieht die Bilanz kaum besser aus. Als «Bubenkino» möchte Nazzaro seine Auswahl jedoch nicht verstanden wissen und weist daraufhin, dass auf das gesamte Festival gesehen der Frauenanteil bei beinahe 30% liege. Ob das reicht, werden die kommenden zehn Tage zeigen.