«Ich weiss gar nicht, warum sie mich geheiratet hat», sagte Alfred Hitchcock in den 1970ern während eines längeren Interviews über seine Karriere. Wohl kaum aus Karrieregründen: Alma Reville war bereits eine etablierte Kraft in der britischen Stummfilmindustrie, als er sie kennenlernte. Er hingegen war ein Anfänger.
Alma Reville Hitchcock, für das gleiche Gespräch am selben Tisch sitzend, verriet sofort, warum sie sich für eine Beziehung mit ihm entschieden hatte: «Weil ich ältere Männer mochte.»
Die von ihr aufgegleiste Pointe überliess sie dann höflich ihrem Gatten, der nur noch hinzufügen musste: «Das stimmt, ich bin einen Tag älter als sie.»
Ein eingespieltes Duo
Die Hitchcocks hatten trockenen Humor und konnten sich Witze wie Bälle zuspielen. Kein Wunder: Die beiden hatten zu diesem Zeitpunkt jahrzehntelange Übung im gemeinsamen Durchgehen von Dialogen.
Es gab fast keinen Hitchcock-Film, an dem Alma Reville nicht kreativ oder auch anderweitig mitgewirkt hätte. Das war in der Branche kein Geheimnis. Aber es kursierten Missverständnisse.
Die Gerüchteküche brodelte
Gerücht Nummer eins: Alma Reville manipuliere die Arbeiten ihres Mannes geflissentlich, weil sie nicht selbst auf dem Regiestuhl sitzen dürfe. Falsch!
Gerücht Nummer zwei, noch perfider: Alma Reville sei das wahre Genie im System Hitchcock. Sie treffe alle Entscheidungen im Hintergrund. Genauso falsch!
Sie ergänzten sich
Die filmhistorische Forschung hat es längst bewiesen: Die Hitchcocks verfolgten über 50 Jahre lang ein meist erfolgreiches, gemeinsames Geschäftsmodell, das auf gegenseitigem Vertrauen und Respekt basierte. Alfred arbeitete im Vordergrund, Alma im Hintergrund.
Glaubt man den Aussagen der beiden, dann ergab sich diese Rollenverteilung aufgrund der persönlichen Vorlieben. Alfred stand gerne an der Front und war froh um Almas Urteilsvermögen in Sachen Inhaltsentwicklung, Dialoge, Kostüme, Cast und Schnitt.
Alma wiederum genoss es, über Deutungshoheit und Anerkennung zu verfügen, ohne im Rampenlicht stehen zu müssen.
Alma urteilte über alles und Alfred liess das gerne in letzter Instanz geschehen: Dann, wenn möglichst niemand mehr etwas an ihren Vorschlägen ändern konnte. Erst recht nicht ein beteiligtes Studio oder ein involvierter Produzent.
Der Chef blieb Chef, sie machte mit
Der ursprüngliche Ideengeber aber, der fordernde Regisseur auf dem Set, und der alleinige Vermarkter und Markenbotschafter «seiner» Filme und «seiner» Methoden – das blieb Alfred. Dabei hatte er wohlverstanden ein Ass im Ärmel.
Wenn Hitchcock sich in späteren Phasen weit aus dem Fenster lehnte mit der Darstellung von abgründiger Gewalt, von Sex, von Perversionen, von problematischen Frauenfiguren: Dann geschah das nicht nur mit der Einwilligung, sondern mit der expliziten Zustimmung seiner Gattin.
Reville lehnte Stoffe nicht ab, weil sie diese als zu gewagt empfand. Sie widersprach vorwiegend dann, wenn sie ihr als zu oberflächlich und zu trivial erschienen.
So geschehen bei «The Birds» (1963): Hitch setzte sich in diesem Fall durch, weil ihm vor allem technische Neuerungen vorschwebten.
Warum führte Alma nie Regie?
Reville hatte bei aller öffentlichen Zurückhaltung keine Berührungsängste mit Filmsets: In ihren Anfängen in den 20ern war sie mehrmals Regieassistentin gewesen.
Fragte sie die Presse aber damals, ob sie sich Filme unter eigener Regie vorstellen könne, dann konterte sie schlicht mit dem Hinweis auf ihre Statur: «Ich bin 1,50 Meter hoch. Man sollte grösser sein, um ein Filmset im Griff zu haben.»
Zwischen den Zeilen liest sich heraus: Reville zweifelte nicht an ihren Fähigkeiten, nicht an ihrer Kompetenz und auch nicht an ihrer Autorität. Tatsächlich zögerte Alma zeitlebens selten, aus ihrer Sicht misslungene Drehbücher anzupassen, Fehlentscheide zu korrigieren und hoffnungslose Übungen abzubrechen. Oder kurzfristig Leute auszuwechseln.
Nur brauchte sie dafür keinen Sitz auf einem Kamera-Kran, kein Megafon und keinen Sitz in der Chef-Etage: Sie hatte Alfred.
Alfred wiederum pflegte von sich zu sagen: Wenn er mit Dreharbeiten beginne, dann habe er schon den gesamten Film vor dem geistigen Auge: Einstellung für Einstellung.
Dass er sich dessen so sicher war, das kam nicht von ungefähr: Alfred hatte zuvor nicht nur seine mehrfach überarbeiteten Drehbücher, sondern auch seine Storyboards der kompetenten Zweitmeinung seiner Ehefrau überlassen.
Trotzdem: Kaum jemand kennt Reville
Im offiziellen Vorspann der Filme erscheint Revilles Name ernüchternd selten, was die Einschätzung ihrer Leistungen erschwert. Hier schafft ein neu erschienenes, lesenswertes Buch Abhilfe, welches auch das bewegte Privatleben des Paares nachzeichnet.
Alma selbst unterband es ab 1950 aktiv, namentlich erwähnt zu werden – vielleicht, weil es für ihre Art der Mitwirkung ohnehin keine präzise Bezeichnung gab: Sie intervenierte überall, wo sie ihr Mann darum bat.
Almas Verdienst: der Mord in der Dusche
Verhältnismässig gut dokumentiert ist Almas Einfluss auf die weltberühmte Duschen-Mord-Szene in «Psycho» (1960). Alma soll es gewesen sein, die den Ablauf der rasch aufeinanderfolgenden Einstellungen fixierte.
Alma verhinderte zudem nach der Sichtung des Schnitts von «Psycho» die verfrühte Auslieferung an die Kopierwerke. Eine Einstellung mit Janet Leigh müsse noch entfernt werden, war Revilles Feedback: «Die Leiche atmet noch».
Tatsächlich: Ausser Reville hatte niemand im Vorführraum bemerkt, dass die sonst regungslos liegende Schauspielerin zum Schluss der Szene geblinzelt hatte – auch Hitchcock nicht.
Ein filmhistorischer Glücksfall
Aber warum heiratete Alma Alfred? Es darf ihr Geheimnis bleiben. Es ergab sich daraus jedenfalls – ungeachtet davon, ob all die Geschichten stimmen – eine über 50-jährige Ehe und eine berufliche Verbindung, ohne die die Filmgeschichte ärmer wäre.
Nicht zuletzt existieren Hitchcocks und Revilles Werke, weil zwei Menschen es zumindest der Legende nach verstanden, sich zeitlebens ehrliche, gewitzte Feedbacks zu geben – teils zu erstaunlich heiklen Themen.