Es sind Vorwürfe, die eine Karriere schlagartig beenden könnten. Bei den Dreharbeiten seines neuen Spielfilms «Sparta» habe der österreichische Regisseur Ulrich Seidl Minderjährige vor die Kamera geholt, ohne sie und ihre Eltern explizit darauf aufmerksam zu machen, was in den Szenen geschildert werden sollte: Pädophilie.
Ein Kind sei zu einer Nacktszene angeregt worden, heisst es. Es seien Tränen geflossen. Die Kinder seien überfordert gewesen. Sie hätten nicht mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden können.
Gestützt auf aufwändige Recherchen zeichnet das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» in seinem Artikel das Bild eines Filmschaffenden, der seine Protagonistinnen und Protagonisten drangsaliert.
Beklemmung gehört dazu
Bis zu einem gewissen Grad rennt der «Spiegel» damit offene Türen ein. Wer sich einen Film von Ulrich Seidl anschaut, sieht viele Menschen, die sich weit ausserhalb ihrer Komfortzonen bewegen.
Oft sind es Laien, die mit abwegigem Verhalten oder bizarren Aussagen für eine beklemmende Stimmung sorgen. Die unterkühlte Art und Weise, wie Tabus gebrochen werden, zählt mehr als der Tabubruch selbst.
Das Publikum fragt sich zu Recht: War der Dreh für die Menschen vor der Kamera so unangenehm, wie es sich beim Zuschauen anfühlt? Diese Reaktion hervorzurufen, gehört seit bald drei Jahrzehnten zur unbequemen Kunst von Seidl. Man muss seine Kunst nicht mögen, aber Seidl beherrscht sie: Sonst wäre er längst weg vom Fenster.
Alle Standards eingehalten
Der Regisseur kontert nun: Es habe auf dem Set Rückzugszonen gegeben. Die Minderjährigen seien jederzeit pädagogisch begleitet gewesen. Diese Praxis ist allerdings beim Filmen mit Kindern Standard. Ulrich Seidl wehrt sich also indirekt nicht gegen den Vorwurf, er hätte Kinder malträtiert, sondern bloss dagegen, er und sein Produktionsteam hätten dilettantisch gearbeitet.
Ob die Kinder unvorbereitet mit sexuellen Inhalten konfrontiert wurden, ist bis jetzt nicht beweisen. Wäre dem aber so: Es wäre nicht nur verwerflich, sondern eben vor allem höchst unprofessionell. Unprofessionell von einem Künstler, der sich gerade auf solche Grenzgänge versteht.
Wie reagieren die Festivals?
Welche Folgen die «Spiegel»-Vorwürfe für Seidl haben, ist noch nicht abzusehen: Das Zurich Film Festival hat sich sich hinter ihn gestellt und damit auch hinter die Kunstfreiheit. Man wollte sich nicht dem Vorwurf aussetzen, «Cancel Culture» zu betreiben. Das Toronto Filmfestival hingegen hat die Weltpremiere von »Sparta« abgesagt.
Klar ist: Seit der #MeToo-Bewegung interessiert es die Öffentlichkeit, wenn auf einem Filmset etwas falsch läuft. So soll es auch sein – nicht zuletzt bei Ulrich Seidl, dessen Filme oft nicht den Eindruck machen, als seien sie in reiner Einvernehmlichkeit entstanden.
Wohl kein Karriere-Aus
Es stimmt schon: Übergriffiges oder anderweitig deplatziertes Verhalten kann eine Karriere in der Filmwelt beenden. Das geschieht in der Regel dann, wenn sich die Branche von einer Person abwendet, weil über sie intern glaubwürdige Beschwerden kursieren. Und nicht aufgrund von medialer (Vor-)Verurteilung.