Privatdetektiv Mike Hammer liegt am Boden. Er wurde angeschossen. Die habgierige Gabrielle schnappt sich den Koffer, den sich alle abjagen. Sie weiss um den Wert des Koffers, aber nicht um dessen Inhalt. Als sie ihn öffnet, strahlt ihr gleissendes Licht entgegen.
Aus dem Koffer dringt ein metallisches Seufzen, das sich mit Gabrielles gellendem Schrei vermischt. Die Frau verbrennt bei lebendigem Leib. Die Kulisse verwandelt sich in einen stroboskopisch leuchtenden Feuerball. Im Koffer lodern radioaktive Isotope.
Am Schluss des schwarz-weissen Film Noirs «Kiss Me Deadly» von Robert Aldrich (1955) herrscht Weltuntergangsstimmung. Die Strahlung wurde freigesetzt, es wird niemand überleben. Der Schriftzug «The End» wirkt zynisch.
«Das Atom ist die Zukunft»
Zwei Jahre später tritt Walt Disney vor eine Kamera. Er erscheint in Farbe. Adrett gekleidet und im onkelhaften Tonfall spricht der Animationspionier die Einleitung zu seiner neusten TV-Produktion: «Our Friend the Atom».
Disney zeigt seinem Publikum ein atombetriebenes Schiff. Danach hält er ein kugelförmiges Modell in die Kamera. «The atom is the future», sagt er und übergibt das Wort dem telegenen deutschen Physiker Heinz Haber.
Haber erklärt, was ein Atom ist, und was es kann. In bunten Bildern, die das Auge verwöhnen: Elektronen umkreisen den Nukleus wie Planeten auf ihren Umlaufbahnen. Das Phänomen der Kettenreaktion wird mit Pingpongbällen und Mausfallen nachgestellt.
Das Design des Films vermittelt Verspieltheit, Sicherheit, Komfort: Der Missbrauch des Atoms scheint überwunden, der friedlich genutzte Atomstrom verspricht ein neues Goldenes Zeitalter.
Zwei Perspektiven, gleiches Thema: Atomkraft. Lassen sich die beiden Filmsequenzen einer utopischen, bzw. dystopischen Tradition in der US-Kultur rund um das Atom zuordnen?
Zunächst stehen sich eine Ästhetik der Zerstörung und eine Ästhetik des Aufbaus gegenüber. Die Ästhetik der atomaren Zerstörung hat ihre Wurzeln unverrückbar in den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki.
Noch bevor der Mensch vom potenziellen Segen der Kernspaltung erfuhr, erlebte er 1945 ihre auslöschende Gewalt. Den Schritt ins Bewusstsein machte die Atomphysik als Massenvernichtungswaffe.
Diese Ästhetik der Zerstörung bediente derweil nicht nur die Angst vor einem potenziellen nuklearen Gegenangriff auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, sie bebilderte auch einen moralisch-patriotischen Konflikt. US-Präsident Harry S. Truman hatte mit dem Abwurf der beiden Bomben die japanische Zivilbevölkerung getroffen und weit über hunderttausend Todesopfer in Kauf genommen.
Mutierte Kreaturen im Kino
Die Öffentlichkeit wertete den Angriff als die siegreiche Alternative zu einer terrestrischen Invasion. In der direkten Nachkriegszeit schien niemand laut darüber nachzudenken, ob mit den Atombombenabwürfen ein Kriegsverbrechen begangen worden war.
Das Ausbleiben von medialer Kritik dürfte dazu beigetragen haben, dass die düster-pessimistische Schilderung von Atomtechnologie einen weiteren Zweck erfüllte: Sie verwies auf ein unterschwelliges schlechtes Gewissen.
Die Ästhetik der Zerstörung fand früh Einlass in das Genre des Horrorfilms. Durch atomare Strahlung mutierte Kreaturen eroberten ab 1953 die Leinwände. Sogenannte B-Pictures richteten sich mit Rieseninsekten und verstrahlten Wesen an ein Teenagerpublikum in den damals neu eingerichteten Drive-in-Kinos.
Nicht nur im Westen, auch im Osten fasste der Trend mit den Atom-Monsterfilmen Fuss. 1954 erschien in Japan der erste von über dreissig Filmen mit der Riesenechse Godzilla.
Die Kritik am Missbrauch der Atomtechnologie wurde im ersten «Godzilla»-Film von einer Figur zwar zum Schluss ausgesprochen. Dennoch verfolgten diese Filme nicht primär politische Zwecke, sondern sollten Geld einspielen. Sie boten daher Spektakel und Nervenkitzel rund um das kontroverse Thema.
Die Koffer-Szene von «Kiss Me Deadly» etwa beruht auf einem konkreten Vorfall: 1946 bekam der Kernphysiker Louis Slotin beim Hantieren mit einem Plutoniumkern eine tödliche Strahlendosis ab, weil ihm ein Schraubenzieher entglitt. Die Art, wie Zeugen den Vorfall schildern, deckt sich mit der Bebilderung von Radioaktivität im Film: Ein bläuliches Glimmen und ein Hitzestoss wurden beschrieben.
Was auffällt in «Kiss Me Deadly»: Der atomaren Verseuchung geht hier weder eine kriegerische Absicht noch ein aufwändiger Bombentest voraus. Nur eine unachtsame Geste.
Das ist subversiv, wenn man bedenkt, dass der US-Präsident Dwight D. Eisenhower nur zwei Jahre zuvor, 1953, seine Rede «Atoms for Peace» gehalten hatte. Mit einer jahrelangen Medienkampagne propagierte Eisenhower die Vorteile der friedlichen Nutzung von Uran in Kernreaktoren und war bestrebt, die Ängste vor einem atomaren Wettrüsten mit der Sowjetunion im Zaum zu halten.
Wie sieht ein Atom aus?
Auch Disneys «Our Friend the Atom» wurde im Auftrag der US-amerikanischen Regierung produziert. Was zum Schluss verleiten könnte, die utopische Sichtweise auf Atomenergie – und die bunte Ästhetik des Aufbaus – seien staatlich kontrollierte Massnahmen gewesen.
Ganz so einfach ist es aber nicht. Disneys Crew musste sich zuerst mit der Frage auseinandersetzen, welche bildliche Gestalt das Atom erhalten solle. Eine realistische Abbildung war zu dieser Zeit undenkbar. Blieb also der Rückgriff auf wissenschaftliche Modelle, die nur bedingt mit einer tatsächlichen Sichtbarmachung des Atoms zu tun hatten.
Warum man sich bei Disney für Kugeln, Kreise, Schalen und Umlaufbahnen entschied, liegt auf der Hand. Diese Modelle waren bereits seit Jahrzehnten ein fester visueller Bestandteil der Materie. Und Walt Disney war seit dem Erfolg der Ohren von Mickey Mouse wohlvertraut mit dem Attraktionspotenzial runder Formen.
Wellen, Formen, Rundungen
Die kreativen Köpfe hinter «Our Friend the Atom» dachten also bewusst nicht darüber nach, inwieweit die Quantenmechanik eine stabile orbitale Ordnung des Atoms anzweifelten.
Die Ästhetik von «Our Friend the Atom» lässt sich aber noch in einen breiteren Kontext einordnen: Bereits während dem Zweiten Weltkrieg hatte sich in den USA eine stimulierende Form des Designs entwickelt, die man heute als «Atomic Age Design» bezeichnet.
Die Kunstrichtung hob sich markant ab von der kantigen, kalten Maschinenästhetik der vorigen Jahrzehnte und setzte auf organische Formen: Kurven, Rundungen, Wellenlinien – dank neuen Kunststoffen oft in leuchtenden Farben.
Suggeriert wurde mit dieser visuellen Grammatik der Aufbruch in eine moderne, friedliche Zukunft – ein radikaler Gegenentwurf zu den erdrückenden Bildern, die der Zweite Weltkrieg generiert hatte.
Die Atomkraft spielte in dieser «organischen» Kultur aber manchmal eine Rolle, die heute geschmacklos ist: Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasiki hiessen verniedlichend «Little Boy» und «Fat Man». Ein über dem Bikini-Atoll abgeworfener Sprengkörper soll mit einem Konterfei der Schauspielerin Rita Hayworth verziert worden sein.
In Las Vegas fanden die «Miss Atomic Bomb»-Schönheitswahlen statt, deren Siegerin mit einem aus Watte geformten Atompilz posierte. Und das Magazin «Life» präsentierte die Schauspielerin Linda Christian als eine «Anatomic Bomb» – abgelichtet im Zweiteiler, der seinen Namen dem Bikini-Atoll verdankte.
Verirrungen dieser Art boten auch den Anlass zu Stanley Kubricks Satire «Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb» (1964), die in einem willkürlichen Atomkrieg endet. Der Film gilt als die gnadenlose Abrechnung mit den Hoffnungen und Befürchtungen des Atomzeitalters.
So kann er auch als Schlusspunkt dieser Epoche gesehen werden – auch wenn in den 1970er- und 1980er-Jahren viele Filme entstanden, die die Risiken von Atomstrom und Angst vor einem Dritten Weltkrieg thematisieren.
Doch was ist aus den beiden Filmmomenten geworden, die eingangs unterschiedliche Konnotationen von Kernkraft illustrierten? Walt Disneys «Our Friend the Atom» liegt heute in verschiedenen Fassungen auf YouTube bereit.
Auch neuere Filme des Disney-Konzerns spielen gerne mit Space-Age-Ästhetik: «Tomorrowland» (2015) etwa bezieht sich auf eine futuristische Vergnügungspark-Themenwelt, die Disney ab 1955 in seinem kalifornischen Disneyland betreiben liess.
Feuer, Flammen, Brände
Auch der Nuklearkoffer aus «Kiss Me Deadly» hinterliess Spuren in der Filmgeschichte. Als die Nazis in Steven Spielbergs «Raiders of the Lost Ark» (1981) die Bundeslade öffnen, schmelzen ihre Gesichter im Flammenmeer. In Quentin Tarantinos «Pulp Fiction» (1994) macht ebenfalls ein Koffer die Runde, dessen Inneres verdächtig leuchtet. Aber nichts davon hat mit Radioaktivität zu tun.
Den Zusammenhang wieder hergestellt hat David Lynch. In «Kiss Me Deadly» finden sich mehrere Grundmotive, die später in Lynchs albtraumhaften Universen immer wieder auftauchen: Elektrizität, Feuer, Flammen, Brände.
In der dritten Staffel seiner Mystery-Serie «Twin Peaks» (2017) wird Lynch explizit: «July 16, 1945, White Sands, New Mexico, 5:29 AM (MWT)» wird eingeblendet, aber nicht erklärt.
Appellation an ein schlechtes Gewissen
Angespielt wird auf den sogenannten Trinity-Test – eine Kernwaffenexplosion unmittelbar vor den Bombenabwürfen über Japan. In «Kiss Me Deadly» genügte noch eine verbale Anspielung auf den Trinity-Test. Lynch hingegen bebildert den ganzen Vorgang eindringlich: Minutenlang lässt er zu dissonanten Tönen und in bedrückenden Schwarz-Weiss-Bildern einen Atompilz in die Höhe schiessen.
Mit dieser Sequenz verweist Lynch auf einen Seitenaspekt der US-amerikanischen Ästhetik der Zerstörung: Die Appellation an ein schlechtes Gewissen. Denn die USA haben Japan bis zum heutigen Tag nicht für «Little Man» und «Fat Boy» um Entschuldigung gebeten.