Am 20. Dezember 2019 um 12:30 Uhr geht eine Ära zu Ende: Das Atomkraftwerk Mühleberg wird nach 47 Jahren vom Netz genommen. Freilich dauert es dann noch eine Weile, bis der gesamte Rückbau durch ist. Bis 2024 sollen die Brennelemente, bis 2030 alle radiologischen Gefahrenquellen entfernt werden. Erst 2034 ist der Rückbau offiziell abgeschlossen.
Und dann? Wird der ganze Komplex abgerissen und das Gelände wieder zur grünen Wiese? Oder werden die Gebäude industriell umgenutzt? Oder wird die Hülle des ehemaligen Kernkraftwerks sogar als Kulturerbe unter Schutz gestellt?
«Schön wäre was Sinnvolles»
Die Betreiberfirma BKW hat noch kein Szenario für die Zeit nach 2034. «Wir nutzen das Gelände zukünftig naturnah oder industriell», schreibt die BKW unverbindlich. Der Firma bleibt noch Zeit, sich Gedanken zu machen, muss sie doch erst bis 2027 ein Projekt einreichen.
Die Gemeinde Mühleberg schaut der Abschaltung und dem Rückbau des AKWs mit Gelassenheit entgegen. «Schön wäre es, wenn dort wieder etwas Sinnvolles entstünde», sagt der Gemeindepräsident René Maire: «vielleicht ein Forschungszentrum, das im Zusammenhang mit der Energiewende steht.»
Kein identitätsstiftendes Wahrzeichen
Als Kulturdenkmal kann er sich das AKW nicht wirklich vorstellen. Ein identitätsstiftendes Wahrzeichen ist es jedenfalls für die Gemeinde Mühleberg nie gewesen. «Aufgrund seiner Lage in einiger Entfernung zum Dorf haben wir es kaum vor Augen gehabt», sagt Maire.
Ist ein AKW eigentlich Baukultur? Diese Frage kann auch Michael Gerber, Denkmalpfleger des Kantons Bern, nicht auf Anhieb beantworten: «Kriterien für Baukultur sind etwa die architekturhistorische, kunsthistorische und lokalhistorische Bedeutung eines Objektes.»
Als das AKW Mühleberg vor 15 Jahren für das kantonale Inventar ins Visier genommen wurde, schrieb man ihm keinen denkmalpflegerischen Wert zu. «Aber wenn man die Industriegeschichte lückenlos dokumentieren will», so Gerber, «müsste man auch das Atomkraftwerk als Bautyp erhalten.»
Ein Symbol, das spaltete
Mit zunehmender zeitlicher Distanz dürfte es auch eine Neueinschätzung der Atomkraftwerke als Baudenkmal geben. Doch das ist keine rein architekturhistorische Diskussion, denn ein AKW ist ein ideell und emotional aufgeladenes Symbol für das Thema Kernkraft, das über Jahrzehnte die Gesellschaft spaltete.
Was mit all den stillgelegten Atomkraftwerken in den Ländern geschehen soll, die den Atomausstieg beschlossen haben, ist somit auch eine politische, gesellschaftliche und ethische Frage.
In Deutschland, wo der Atomausstieg 2011 beschlossen wurde, ist der Rückbau von Atomkraftwerken schon zügig im Gange. Das postulierte Ziel ist jeweils der Rückbau zur grünen Wiese. Die ungeliebte Vergangenheit soll so gewissermassen mit dem Bauwerk selber zum Verschwinden gebracht werden.
Unbequemes Denkmal
Das wiederum versetzt die Denkmalpfleger in Alarmbereitschaft. Anlässlich eines internationalen Kongresses 2017 in Berlin zum Thema «Kernkraftwerke. Denkmalwerte und Erhaltungschancen» wurde die Befürchtung geäussert, die Entwicklung führe innerhalb weniger Jahre zum «Verlust sämtlicher baulicher Zeugnisse der Kernenergiegewinnung in Deutschland».
Vielleicht passt hier der Begriff des «unbequemen Denkmals». Der deutsche Kunsthistoriker Norbert Huse, der ihn 2011 geprägt hat, meinte damit Baudenkmale, deren historischer Gehalt vielen zunächst Schwierigkeiten bereitet, etwa Bauten aus totalitären Regimes oder heruntergekommene Siedlungen der Nachkriegszeit.
Doch diese negativ besetzten Objekte dürfen laut Huse nicht vergessen gehen. Sie sind Teil des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft. Spätere Generationen können sich dank ihnen ein vollständigeres Bild unserer Zeit machen. Deshalb sollen auch «unbequeme Denkmäler» erhalten bleiben.
Ein kontroverses Beispiel eines «unbequemen Denkmals» ist der B Reactor in Hanford Site, im US-Bundesstaat Washington – und gleichzeitig ein Beispiel, wie ein Kulturerbe umgedeutet werden kann.
Seit 2008 gilt der Reaktor als «national historic landmark» und ist für Besuchergruppen zugänglich. Der Reaktor wurde 1943 zur Herstellung von Plutonium erbaut – Plutonium, das unter anderem auch in der Bombe verwendet wurde, die Nagasaki zerstörte.
Woran erinnern?
Doch weder die Vergangenheit des Werks noch die enorme Strahlenbelastung – man spricht von Hanford Site als dem am stärksten radioaktiv kontaminierten Ort der westlichen Hemisphäre – noch die gigantischen Anstrengungen und Kosten, die es braucht, um den Ort wie geplant bis 2060 zu dekontaminieren, sind der «B Reactor Museum Association» auf ihrer Webseite eine Erwähnung wert.
Stattdessen wird der Reaktor als «nukleare Ikone» gefeiert, die dazu beigetragen habe, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Es ist schwierig genug, die Erinnerung an eine Epoche zu bewahren, die man nicht als ruhmvoll empfindet. Und noch schwieriger offensichtlich, herauszufinden, woran man sich denn überhaupt erinnern soll.