Vieles von dem, was nach dem Zweiten Weltkrieg, nach 1968, zu den selbstverständlichen Errungenschaften einer zunehmend emanzipierten Gesellschaft gehört, scheint plötzlich bedroht.
Neokonservative Tendenzen, nationalistische Bewegungen, Klimakollaps, das Verschwinden von Anstand aus der Politik und der Vernunft aus den Köpfen sorgen für bisweilen apokalyptische Ängste bei vielen von uns.
Gespräche mit Politikerinnen und einem Geflüchteten
Stefan Haupt versucht, mit seinem Film dieser diffusen Stimmung auf die Spur zu kommen. Ausgehend von sich selber und seiner Familie redet er mit bekannten und weniger bekannten Köpfen, etwa mit SP-Nationalrätin Jacqueline Badran, mit Flavia Kleiner von der Operation Libero oder mit Muzafar Shafai, Geflüchteter aus Afghanistan.
Leben und Wohnen in Zürich und in der Schweiz werden angesprochen, ein heimlicher Star des Dokumentarfilms ist Haupts jüngste Tochter Thalia, welche mit bestimmter Direktheit einen klaren Blick auf die Welt vermittelt.
«Sorry Papa, du bist auch so»
Der wohl zentrale Satz im Film aber kommt vom ältesten Sohn des Regisseurs. Alexis bekundet zwar keine Lust, im Film aufzutreten, erlaubt seinem Vater aber immerhin, ihn zu zitieren: «Der Weltuntergang stand doch schon immer vor der Tür. […] Was ist das für ein Anspruch, dass es auf der ganzen Welt nichts Schlimmes geben sollte? […] Zürich ist dermassen der Inbegriff der heteronormativen Welt. Aufgeklärte liberale intellektuelle Europäer, die jammern: ‹Ich Armer, um mich herum bricht die Welt zusammen, aber mir geht es gut. Ich Armer bin so voll geschockt, dass die Welt auch ein böser Ort ist, obwohl ich doch selber damit gar nicht konfrontiert bin…›. Sorry Papa, du bist auch so!»
Rumms. Das sitzt.
Nach dem «Zwingli»-Erfolg
Stefan Haupt hat ein paar Jahre seines Lebens in den «Zwingli»-Film gesteckt. Nach dieser Knochenarbeit stand dem Regisseur nun der Sinn nach einem formal offeneren, fliessenden Projekt.
Im neuen Film schneidet er dokumentarische Aufnahmen und Gespräche aneinander, die zwischen Januar 2016 und März 2020 entstanden sind.
Dieses «Zürcher Tagebuch» fährt anders ein als man es von «Zwingli» in Erinnerung hat. Da wird nicht der Aufbruch gefeiert. Der Film blickt auf Errungenschaften und anerkennt deren Gefährdung – oder unsere Angst vor ihr.
Kinostart: 5.11.2020