Für den nüchternen, unbefangenen Betrachter ist der Fall glasklar: Hollywood und Cannes lieben einander. Warum sonst würden sich die zwei Hotspots des Films gegenseitig so umgarnen?
Das skeptische Feuilleton, das um die gelegentlich kursierenden Misstöne weiss, beurteilt die Beziehung der zwei Kinohochburgen etwas kritischer: Es handle sich um eine Zweckehe, sagen da die einen. Während die anderen lieber von einer Hassliebe reden.
Wie dem auch sei: Unüberbrückbar sind die Differenzen von Hollywood und Cannes gewiss nicht. Auch wenn die Publicity Stunts der grossen Studios auf der Croisette schon so manchen kultivierten Cineasten auf die Palme gebracht haben. Wie 2014, als plötzlich Panzer an der Côte d’Azur aufkreuzten. Doch alles der Reihe nach.
Hitler lässt das erste Festival platzen
Cannes feiert in diesen Tagen bekanntlich seine 75. Austragung. Doch nur wenige wissen, dass die allerersten Filmfestspiele von Cannes bereits 1939 hätten stattfinden sollen.
Als Starttermin angepeilt wurde der 1. September, um der faschistisch gefärbten Festivalstadt Venedig im Sinne einer Kino-Gegenveranstaltung die Stirn zu bieten. Dummerweise war das just der Tag, an dem Hitler Polen überfiel und damit den Zweiten Weltkrieg auslöste.
Die erste Edition des ruhmreichsten aller Festivals konnte – protegiert von den Siegermächten – darum erst sieben Jahre später stattfinden. Auch die Schweiz trug damals in Cannes zur Aufarbeitung des Kriegs bei: mit «Die letzte Chance» von Leopold Lindtberg. Dem bis dato einzigen Schweizer Gewinner des Hauptpreises, der damals noch Grand Prix hiess.
Big Business unter Palmen
Erst seit 1955 nennt sich die höchste Auszeichnung, die man in Cannes abstauben kann: Goldene Palme. Frauen gelang das erst zweimal: Jane Campion mit «The Piano» 1993 und Julia Ducournau mit «Titane» im letzten Jahr. Dieser denkwürdige Umstand hat dem Festival den wenig schmeichelhaften Ruf eingebracht, mächtige Männer massiv zu favorisieren. Und damit den Status quo zu zementieren.
Unumstritten ist, dass die Reichen und Schönen an der Croisette seit jeher willkommen sind. Nirgends wird die Symbiose von Kunst und Kommerz so zelebriert wie in Cannes. Das Buhlen für die neusten Blockbuster läuft parallel zur Palmenjagd und sorgt für maximale mediale Aufmerksamkeit.
Was bisweilen dazu führt, dass man sich besser an die spektakulären PR-Stunts erinnert als an den stets stark besetzten Wettbewerb. Wie 2014, als die «Expendables»-Stars Harrison Ford, Mel Gibson, Sylvester Stallone, Antonio Banderas und Arnold Schwarzenegger auf Panzern posierten. Und damit deutlich mehr Aufsehen erregten, als der damalige Palmengewinner «Winter Sleep».
Topshots im Anflug
Wie das Aufwachen aus einem Winterschlaf fühlt sich für Cannes derzeit wohl auch die durch Corona etwas abgekühlte Beziehung zu Hollywood an. Bereits ein flüchtiger Blick aufs Programm zeigt, dass die jüngste Baisse an US-Blockbustern bereits wieder passé ist.
Hollywood schickt in diesem Jahr neben dem hitverdächtigen Biopic «Elvis» unter anderem Allzweckwaffe Tom Cruise mit der lange erwarteten Fortsetzung von «Top Gun» ins Getümmel. Beide ausser Konkurrenz, wie sich angesichts des frisch entfachten Schmusekurses fast von selbst versteht.
Den zweiten Frühling in der Love Story zwischen Hollywood und Cannes verderben kann eigentlich nur der Blick in der Ukraine. Weil bei einer weiteren Verschärfung des Kriegs martialische Kassenschlager wie «Top Gun: Maverick» ziemlich deplatziert wirken dürften.