Lili Hinstin wird neue künstlerische Leiterin des Filmfestivals Locarno. Die Französin ersetzt Carlo Chatrian, der die künstlerische Leitung der Berlinale übernimmt. Mit Hinstin, die ihre Stelle am 1. Dezember 2018 antreten wird, hat man sich in Locarno für die Direktorin des Entrevues Belfort – Festival International du Film entschieden.
Gute Chancen auf die Chatrian-Nachfolge ausgerechnet hatten sich auch Festivalleiter wie Thierry Jobin (FIFF) und Anaïs Emery (NIFFF) – vor allem in der Deutschschweiz hatten Kenner der Szene auf Seraina Rohrer gewettet, die Direktorin der Solothurner Filmtage. SRF-Filmredaktor Selim Petersen über Personalien und Perspektiven.
SRF: Seraina Rohrer wird’s. Dachte man zumindest in der Deutschschweiz. Aber die Nachfolgerin von Carlo Chatrian heisst Lili Hinstin. Überrascht?
Selim Petersen: Ja, die Überraschung ist gross. Fast alle rechneten mit der Schweizerin Seraina Rohrer – auch ich. Die Französin Lili Hinstin gehörte nur zum erweiterten Kreis der Favoritinnen.
Klar war, es musste eine Frau sein, nachdem in Locarno dieses Jahr eine Charta für Gleichstellung und Diversität unterzeichnet wurde. Eine Frau, aber keine Schweizerin: War Lili Hinstin der bestmögliche Kompromiss?
Kompromiss? Das klingt für mich zu sehr nach einer Beleidigung. (lacht) Ich glaube, damit tut man Lili Hinstin unrecht. Hinstin ist 41 Jahre jung und bringt für dieses Alter viel Erfahrung mit. Sie spricht Englisch, Französisch und – ganz wichtig – Italienisch. Sie arbeitete nämlich zwischen 2005 und 2009 an der Villa Medici als Kuratorin für die französische Akademie in Rom.
Danach übernahm sie die künstlerische Leitung des Dokumentarfilmfestivals Cinéma du Réel im Centre Pompidou in Paris. Hinstin hat also viel kuratorische Erfahrung – und ist insofern die perfekte Wahl.
Zuletzt hat sie seit einigen Jahren das Filmfestival von Belfort gleitet. Eine kleine, aber feine Adresse, wo man keine Angst hat vor grossen Namen.
Ähnlich wie Locarno fördert dieses kleine, aber renommierte Festival junge Filmemacher. Nur die ersten drei Regiearbeiten haben eine Chance, im internationalen Wettbewerb aufgenommen zu werden.
Auch Hinstin gilt als Cinephile, die in erster Linie an die künstlerische Qualität denkt.
So waren etwa die Erstlingswerke von Darren Aranofsky, Olivier Assayas und Lars von Trier in Belfort zu sehen. Ebenfalls sehr wichtig am Entrevues Belfort sind die Retrospektiven, mit denen sich ja Hinstins scheidender Vorgänger Carlo Chatrian in Locarno einen Namen gemacht hatte, bevor er dort zum Direktor befördert wurde.
Carlo Chatrian galt als Cinephiler, der nicht unbedingt das Scheinwerferlicht der Piazza Grande suchte. Setzt man Lili Hinstin auf Kontinuität?
Ganz sicher. Auch Hinstin gilt als Cinephile, die in erster Linie an die künstlerische Qualität denkt – und nicht an die Strahlkraft für das grosse Publikum.
Die Bespielung der Piazza wird für Hinstin sicher zur grösseren Herausforderung als die Selektion des Wettbewerbs, der sich in ihrer Komfortzone befindet. Hinstin und Chatrian sind sich da recht ähnlich.
Da hätten Sie einer Seraina Rohrer mehr zugetraut?
Ich glaube, dass man ihre Empfänglichkeit für die unterschiedlichsten Niveaus und Genres ein wenig unterschätzt. Solothurn bietet ihr diesbezüglich einfach keinen Spielraum.
Die Bespielung der Piazza wird für Hinstin sicherlich zur grösseren Herausforderung als die Selektion des Wettbewerbs.
Seraina Rohrer ist beispielsweise eine ausgewiesene Expertin für das trashige Mexploitation-Kino, das von knalligen Musical-Softpornos und Wrestling-Filmen dominiert wird.
Mich hätte interessiert, ob sie mutig genug gewesen wäre, die Piazza für solche Trash-Perlen zu öffnen.
Das Gespräch führte Stefan Gubser.
Sendung: Nachrichten, SRF 2 Kultur, 24.8.2018, 15.00 Uhr