Sie kreischt. Sie kratzt. Sie beisst. Helena Zengel ist in «News of the World», ihrem erstem Hollywoodfilm, voll in ihrem Element. Denn genau so haben wir den deutschen Shootingstar vor zwei Jahren kennengelernt: Kreischend, kratzend, beissend. Und unglaublich charismatisch.
Als «Systemsprenger» trug die damals Zehnjährige das gleichnamige, preisgekrönte Drama, das den Umgang mit schwer erziehbaren Kindern beleuchtete. Nun spielt die Berlinerin erneut einen Wildfang, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen.
Die Handlung von «News of the World» ist 1870, fünf Jahre nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, in Texas angesiedelt. Und Zengels Spielpartner in diesem Western, der eigentlich fürs Kino konzipiert wurde, ist kein Geringerer als Tom Hanks.
Fakten fürs misstrauische Volk
Der zweifache Oscarpreisträger gibt in der 2019 gefilmten Produktion, die nun von Netflix vermarktet wird, erneut den tugendhaften Helden: Captain Jefferson Kyle Kidd.
Der verwitwete Kriegsveteran zieht als Zeitungsvorleser von Stadt zu Stadt, um Amerika zu einen. Denn die Nation ist – ähnlich wie heute – tief gespalten und das Misstrauen gegenüber Nachrichten aus der Ferne entsprechend gross.
Helena Zengels Figur begegnet er während seiner Reisen aus Zufall. Als er eines Tages auf das wilde Waisenkind trifft, weiss er zunächst nicht, wie er mit ihr umgehen soll: «Nicht beissen!», zischt er dem mysteriösen Mädchen zu, das offenbar kein Wort versteht.
Zikade mit deutschem Blut
Später stellt sich heraus, dass der Blondschopf bürgerlich Johanna Leonberger heisst und einer deutschen Einwandererfamilie entstammt. Nach dem frühen, gewaltsamen Tod ihrer Eltern nahmen sich Stammesmitglieder der Kiowa sechs Jahre lang dem Waisenkind an.
Sie nannten sie «Cicada», was auf Deutsch «Zikade» bedeutet. Und zogen ihr Pflegekind nach den Sitten amerikanischer Ureinwohner auf, bis sie brutal hingerichtet wurden. Kein Wunder also, dass das doppelt traumatisierte Mädchen als Spross unterschiedlichster Minderheiten nicht Englisch spricht.
Weil sich niemand um Cicada kümmern will, nimmt Captain Kidd das Kind temporär unter seine Fittiche. Mit dem Ziel, es zu dessen einzig lebenden Blutsverwandten im 400 Meilen entfernten Castroville zu bringen. Dass es nach vielen gemeinsam überstandenen Abenteuern anders kommt, versteht sich von selbst.
Altmodisches Epos mit moderner Seele
Trotz vorhersehbarer Handlung ist dem Briten Paul Greengrass mit «News of the World» eine stimmige Verfilmung des US-Bestsellers aus dem Jahr 2016 gelungen. Vor allem, weil der bildstarke Film Themen aufgreift, die uns heute beschäftigen.
Kidd kämpft für die Verbreitung verlässlicher Nachrichten im Zeitalter von Fake News und politischer Polarisierung. Ausserdem setzt sich der ehrenhafte Südstaatler für Minderheiten ein, die viele seiner Mitbürger als Feinde betrachten.
Tom Hanks verleiht dieser Figur, welche sich Amerika nach Trump herbeisehnt, die gewünschte Portion Glaubwürdigkeit. Schliesslich strahlt der 64-Jährige durch seine bevorzugte Rollenwahl genau das aus: Anstand, Tugend und Versöhnlichkeit.
Im Vergleich mit Energiebündel Helena Zengel sieht der grundsolide Hanks allerdings uralt aus. Ohne schauspielerisch etwas falsch gemacht zu haben. Es wirkt eher so, als ob der Amerikaner schlicht im Licht der überragenden Strahlkraft eines jungen Stars verblasst ist.
Netflix-Start: 10.2.2021