Bis zur Hitserie «Succession» stand Kieran Culkin im Schatten seines Bruders Macaulay, dem ikonischen Kinderstar von «Kevin – Allein zu Haus». Völlig zu Unrecht, wie sich nun immer deutlicher zeigt. Denn während Macaulay Culkin seinen Zenit bereits mit zehn erreichte, wird Kieran Culkin von Jahr zu Jahr besser.
Inzwischen ist Kieran Culkin 42 und dank seines jüngsten Parts gar im Gespräch für einen Oscar. In der Tragikomödie «A Real Pain» ist der charismatische Wirbelwind auf den ersten Blick genau das: ein schmerzhaft lästiger Typ. Wer Culkin als scharfzüngig-herablassenden Milliardärssohn Roman in «Succession» erlebt hat, weiss, dass er herrlich nerven kann.
Ungleiche Cousins mit Macken
In «A Real Pain» verkörpert Culkin eine ähnlich übergriffige Nervensäge namens Benji. Allerdings eine, die man gerade wegen ihrer Unreife und der darunter liegenden Selbstzweifel mögen muss, ja umarmen möchte. So empfindet es wenigstens David, der eigentliche Protagonist des Films, der über seinen Cousin in einer bewegenden Szene sagt: «Eigentlich liebe ich ihn. Und ich hasse ihn. Aber vor allem möchte ich wie er sein.»
Zwangsneurotiker David, gespielt von Regisseur Jesse Eisenberg höchstpersönlich, ist das exakte Gegenteil: Gesittet und organisiert, aber halt auch gehemmt und ohne gewinnendes Auftreten. Gemeinsam fliegen sie nach Polen, um im Rahmen einer Gruppenreise die Heimat ihrer kürzlich verstorbenen jüdischen Oma kennenzulernen. Vorausahnend, dass die eigenen Probleme bei der Besichtigung eines Konzentrationslagers zumindest für kurze Zeit nichtig werden.
Eisenbergs Werk und Culkins Beitrag
«A Real Pain» dauert für heutige Kinoverhältnisse ebenfalls nicht lange: Gerade einmal 90 Minuten braucht Jesse Eisenberg, um seinen persönlich gefärbten Aufarbeitungstrip ebenso präzise wie unterhaltsam zu schildern. Schmerz und Schmunzeln begegnen sich in dieser Dramödie nicht nur, sie bedingen sich richtiggehend.
Der 41-jährige Filmemacher weiss, dass er diesen dynamischen Effekt massgeblich seinem unwesentlich älteren Schauspielpartner verdankt. Respektive dessen natürlich-übersprudelnder Improvisationsgabe, wie er im Interview bekräftigt: «Immer wenn er etwas Grossartiges tat, bat ich ihn darum, es im nächsten Take zu wiederholen. Worauf er sagte: Keine Ahnung, was ich gerade getan habe.»
Culkin war jeweils so sehr im Moment und in seiner Rolle, dass er buchstäblich nicht wusste, was er tat. Nicht im Sinne einer Masche, sondern «völlig unpretentiös, uneitel und bescheiden» wie Eisenberg anfügt, aber doch «auf ganz eigene Weise brillant».
Eine schauspielerische Naturgewalt
«A Real Pain» ist der erste Kinofilm, der sich Kieran Culkins gewachsene Ausdruckskraft voll zunutze macht: Seine Rastlosigkeit, die manche wohl mit dem Etikett ADHS pathologisieren würden, gehört ebenso zu seinem Repertoire, wie unvorhersehbare Stimmungsschwankungen nach bipolarem Muster.
Nur wenige wissen, dass Culkin sein Gespür für Sonderlinge bereits als 20-jähriger Hauptdarsteller der Komödie «Igby Goes Down» angedeutet hatte. Dafür erhielt er 2003 seine erste Golden-Globe-Nominierung.
Inzwischen sind es deren sechs, wobei er erst in jüngster Vergangenheit reüssieren konnte: 2024 für die finale Staffel von «Succession» und 2025 für «A Real Pain». Zwei vielschichtige Rollen, für die man Kieran Culkin zurecht noch lange feiern wird.
Kinostart: 16.1.2025