Sie sei nervös, sagt die Fotografin Nan Goldin, als sie sich vor dem Metropolitan Museum in New York für eine Protestaktion bereit macht. Gleich wird sie die andächtige Stille im «Sackler-Wing» stören. Ein prachtvolles Gebäude des Museums, gestiftet von einer der mächtigsten Pharma-Familien in den USA.
«Tempel des Geldes, Tempel der Gier, Tempel von Oxy» skandiert Nan Goldin, die fragil wirkt in der Rolle der Anführerin einer Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten.
Kunst und Konfrontation
«Oxy» steht für ein umstrittenes, opioidhaltiges Schmerzmittel, das die Familie Sackler reich und viele Menschen süchtig machte. Auch Nan Goldin war lange abhängig.
Im Dokumentarfilm «All the Beauty and the Bloodshed» erzählt sie, wie sie OxyContin nach einer Operation verschrieben bekam. Bald drehte sich ihr Leben nur noch um die Beschaffung und den Konsum.
Nach dem Entzug wollte sie ihre Werke nicht mehr in Museen sehen, die Spenden der Sacklers annehmen. Sie sollen ihr Geld lieber für Entzugskliniken statt für Kunst ausgeben, sagt sie im neuen Film der preisgekrönten Regisseurin Laura Poitras.
«All the Beauty and the Bloodshed» hat nicht den Anspruch, objektiv über die Opioidkrise in den USA zu berichten. Laura Poitras begleitet die Protestaktionen aus der Perspektive von Nan Goldin, die den Film mitproduziert hat – und zeichnet ein eindringliches Künstlerporträt.
Der Film lebt von Nan Goldins ästhetischen Handschrift und zeigt, wie ihr Werk von Anfang an in der Auflehnung wurzelt.
Leben, Lust und Schmerz
Bekannt wurde die Fotografin mit schnappschussartigen Bildern aus der New Yorker Subkultur der 1970er- und 80er-Jahre. Nan Goldin lebte damals in einem queeren Umfeld und porträtierte aus nächster Nähe Menschen, mit denen sie zusammenlebte: Dragqueens beim Ankleiden für eine Show, Freundinnen unter der Dusche, Paare nach dem Sex.
Es sind keine voyeuristischen Bilder: Das Ergreifende daran ist ihr Blick auf Leute, die Konventionen überwunden und sich selbst neu erfunden haben. Die Fotografien erzählen davon, dass dieser Befreiungsprozess mit Lust ebenso verbunden ist wie mit Schmerz.
Radikale Ästhetik stösst zuerst auf Ablehnung
Der Film montiert diese Bilder so, wie sie Nan Goldin damals in ihrem Freundeskreis zeigt: als Diashow, begleitet von Musik. Er gibt Einblick in ihr berühmtestes Werk, «Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit», in der sie schonungslos die Verletzungen dokumentierte, die ihr ein Liebhaber zufügte.
In der etablierten Kunstszene stiess ihre Ästhetik zunächst auf Ablehnung. Vor allem von männlichen Künstlern und Galeristen bekam Nan Goldin zu hören, das sei keine richtige Fotografie. Heutzutage, sagt sie, sei es schwierig zu verstehen, wie radikal diese Bilder damals waren.
Kunst und Rebellion gehen Hand in Hand
Der grosse Verdienst von «All the Beauty and the Bloodshed» ist es, die Kunst von Nan Goldin bis zu ihren Anfängen zu verfolgen. Er führt zurück in ihr Elternhaus, in dem der Selbstmord ihrer älteren Schwester, an der sie sehr hing, verschwiegen wurde.
«Fotografieren war immer ein Weg, mit Ängsten klarzukommen», sagt Goldin. Mit ihren Bildern will sie zeigen, was in der Gesellschaft negiert oder verborgen wird. Nach diesem Film versteht man, weshalb Kunst und Rebellion im Werk von Nan Goldin immer Hand in Hand gehen.
Kinostart am 27.04.2023.