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Neu im Kino «Billie»: Nahaufnahmen einer Unnahbaren

Worte von Weggefährten, kolorierte Bewegtbilder: Der Dokumentarfilm «Billie» beleuchtet das Leben der Jazz-Ikone Billie Holiday.

Billie Holiday im Kino, schon wieder? Bereits im Frühling war das tragische Leben der grossen Jazz- und Bluessängerin und die politischen Aspekte ihrer Karriere Thema im Spielfilm «The United States vs Billie Holiday».

Nun ist, mit fast zwei Jahren Verspätung, auch der Dokumentarfilm «Billie» vom Briten James Erskine bei uns im Kino zu sehen.

Zurückhaltend koloriert

Das augenfälligste an Erskines Film sind die sorgfältig kolorierten Konzertaufnahmen der 1959 verstorbenen Sängerin. Es gibt nur wenige Farbfotografien aus ihrem Leben und keine farbigen Filmaufnahmen.

Mit Hilfe der brasilianischen Künstlerin Marina Amaral hat das Filmteam die schwarz-weissen Aufnahmen raffiniert und zurückhaltend koloriert: Das Eintauchen in die Zeitlosigkeit ihrer Gesangskunst erscheint dadurch völlig natürlich.

Interviews mit engen Weggefährten

Das inhaltliche Rückgrat des Films liefern die Interviews mit Zeitgenossinnen und Weggefährten der Sängerin. Diese hat die New Yorker Journalistin Linda Lipnack Kuehl in den 1970er-Jahren für eine geplante Billie-Holiday-Biografie geführt.

Kuehl nahm sich 1978 unter bis heute ungeklärten Umständen das Leben. Ihre Tonbandkassetten und Transkripte blieben unbearbeitet im Archiv eines Sammlers liegen.

Ein aufgebrachter Count Basie

Tontechnisch gereinigt und akustisch aufbereitet sorgen diese Aufnahmen heute, rund 50 Jahre später, für Gänsehaut. Wenn zum Beispiel Linda Kuehl Bandleader Count Basie danach fragt, ob es stimme, dass sich die relativ hellhäutige Billie Holiday für ihre Auftritte bei ihm habe dunkler schminken müssen, wird der erst mal ziemlich sauer.

Ob sie denn über Billie Holiday reden wolle oder über seine Band, fragt er aufgebracht. Worauf die Journalistin erklärt, das eine gehe doch nicht ohne das andere.

Billie Holiday wird von einer Frau frisiert
Legende: Als erste schwarze Frau in einer weissen Band setzte Billie Holiday ein Zeichen in den USA der 1940er-Jahre. Praesens Film

Vom Produzenten rausgeworfen

Weniger zurückhaltend war Jo Jones, Count Basies langjähriger Drummer: Billie Holiday habe die Count-Basie-Band nicht freiwillig verlassen, behauptet er. Sie sei rausgeschmissen worden. Und zwar nicht vom Bandleader Count Basie, sondern vom Plattenproduzenten John Hammond.

Dem habe es nicht gepasst, dass sie bei Basie nicht nur Blues-Stücke sang. Hammond habe ihr ein Onkel-Tom-Image aufzwingen wollen: «He wanted her to be a coloured Mammie» (auf Deutsch etwa: «Er wollte sie als schwarz-afrikanisches Kindermädchen inszenieren.»)

Billie Holiday vor dem Spiegel
Legende: Wichtiger als ihr turbulentes Privatleben oder ihre Karriere ist das musikalische Erbe, das Billie Holiday der Welt hinterlassen hat. Praesens Film

Natürlich konfrontiert die Journalistin dann auch John Hammond mit dem Vorwurf, und der findet das völlig absurd. Klar ist allerdings, dass Billie Holiday nicht nur mit ihrem Song «Strange Fruit» über Lynchmorde an Schwarzen im alten Süden provozierte, sondern ganz grundsätzlich mit ihrem Erfolg als Sängerin und dem dadurch sichtbar werdenden Alltagsrassismus.

So erinnert sich Artie Shaws Schlagzeuger, dass Billie Holiday immer wieder im Tourbus schlafen musste, während die weissen Bandmitglieder ins Hotel gingen.

Denkmal für Jazz-Diva

James Erskines Dokumentarfilm «Billie» schafft mit den Konzertaufnahmen von Billie Holiday und den Tonband-Interviewaufnahmen aus den 1970er-Jahren einen Dreisprung in die Gegenwart.

Diese doppelte Brechung über die historischen Aufnahmen und die unfertigen Recherchen von Linda Lipnack Kuehl schichten mehrere Blickwinkel übereinander. Das macht den Film zu einem faszinierenden, transparenten Dokument.

Kinostart: 9.9.2021

Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 9.9.2021, 7:10 Uhr

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