Die Zwillinge Alyssia und Illaria haben wahrscheinlich am meisten Glück gehabt. Ihre Eltern trennten sich, als sie noch klein waren. Die beiden erzählen vor der Kamera unumwunden, wie die Mutter dem Vater Fremdgehen vorgeworfen habe. Dass es möglicherweise aber auch umgekehrt gewesen sei.
Bauernsohn Thomas hat mehr Mühe mit seinen Erinnerungen. Eines Tages habe die Mutter nach einem Streit mit dem Vater gepackt und sei in die Ferien gefahren. Danach habe man nicht mehr über sie gesprochen. Thomas wunderte sich, als die Ferien nach einem Jahr noch nicht vorbei waren.
Nach der Trennung ins Heim
Sherazade ist dafür ziemlich sicher, dass sie der Auslöser dafür war, dass sie und ihr jüngerer Bruder Carleton jetzt im Heim leben. Immerhin gemeinsam.
Sie sah damals nicht, wie sehr der Vater die Mutter nach der Trennung schlecht machte vor den Kindern. Darum sei sie eines Tages wütend von der Mutter weg. Um bald festzustellen, dass sie und Carleton danach nicht zum Vater, sondern ins Heim kamen.
Jacqueline Zünds jüngster Dokumentarfilm «Where We Belong» ist einmal mehr ein Tauchgang in tiefe Menschlichkeit. Sie sei nervös gewesen, erzählt sie, vor den ersten Interviews mit diesen Kindern, die sie gecastet hatte für ihren Film über Trennungskinder. «Aber es war ganz einfach, wie bei Erwachsenen.»
Die Antworten haben es in sich. Die achtjährigen Zwillingsmädchen oszillieren mühelos zwischen verspielter Kindlichkeit und glasklarer Analyse. Sie halten fest, dass sowohl der neue Mann der Mutter wie die neue Frau des Vaters sich gut um die geliebten Eltern kümmern.
Wenn Kinder über Tabus reden
Sherazade und ihr Bruder Carleton, beide reife Teenager, sind sogar staunenswert eloquent. Bei ihnen wird hör- und sichtbar, wie viel Erklärarbeit hinter ihrer Abgeklärtheit steckt. Thomas dagegen spricht vor allem über all das, was nicht gesagt wurde.
«Where We Belong» ist ein Zeugnisfilm, in dem viel erzählt wird. Aber er ist physischer und sinnlicher als Zünds schon bisher schwebende Dokumentarfilme wie «Almost There».
Die Kinder sprechen direkt in die Kamera, der Sound, die Musik und die Bilder fliessen ineinander. Das Resultat: ein durchkomponiertes Kunstwerk voller Bewegung.
Zünd inszeniert ihre fünf Protagonistinnen und Protagonisten jeweils sehr anders. Die Basler Geschwister sind in ihrer städtischen Umgebung zu sehen. Bauernsohn Thomas sieht man zwischen Töffli und Steinbruch, Waldstrasse und Traktor, vor dem Bauernhaus. Diese leere, freie Umgebung lässt die Abwesenheit der Mutter zu einem permanenten Echo werden.
Den Blick dirigiert Zünd. Das bestimmt den ganzen Film: Das Hinschauen und -hören verlangen nach einer Haltung. Diese ist stark und betont die Klarheit und die Stärke der Kinder und Jugendlichen mit einer beschämenden Selbstverständlichkeit.
Staunen im Alltag
«Where We Belong» ist ein grosser Dokumentarfilme, der das Staunen im Alltag findt, in menschlichen Situationen, die wir alle aus nächster Umgebung kennen, viele gar aus eigener Erfahrung. Schmerz, Angst und Trauer werden nicht ausgeblendet, aber auch nicht isoliert. Sie blitzen immer wieder auf. In Sätzen, in abgeklärten Bemerkungen.
Sherazade bringt es auf den Punkt: «Normalität» definieren wir selber, idealerweise für uns und nicht für die anderen.