Die Affäre Wilkomirski hat eine lustige und eine traurige Seite. Die lustige Seite klingt wie Satire: Da schafft es jemand, den Literaturbetrieb hinters Licht zu führen. Ein Mann setzt sich als Holocaust-Überlebender in Szene, und alle glauben ihm das. Reflexartig. Jahrelang.
Diesen Aspekt lässt der Film nicht aussen vor. Doch da ist die traurige Seite: Sie ist länger, komplizierter. So lange und so kompliziert, dass der Dokumentarfilm «W. Was von der Lüge bleibt» von Rolando Colla fast zwei Stunden dauert, und keine Sekunde davon langweilig ist.
Man erfährt: Der Schweizer und Nichtjude Bruno Dössekker (er nennt sich heute noch Wilkomirski) ist kein Till Eulenspiegel, sondern jemand, der über einen teils schmerzhaften Weg zu seiner eingebildeten Vergangenheit gefunden hat.
Fragen türmen sich auf
In «W. Was von der Lüge bleibt» kommt Wilkomirski selbst zu Wort. Das ist der Clou des Films. Er, der abtauchte, nachdem sein Spiel aufflog, hat sich dem Filmemacher Rolando Colla anvertraut. Doch bis Wilkomirski im Film spricht, vergeht eine Dreiviertelstunde.
Diesen Anlauf braucht es, denn die Frage, warum Wilkomirski sein Buch namens «Bruchstücke» überhaupt geschrieben hat, ist nicht die einzige. Warum hat es der renommierte Suhrkamp-Verlag ohne tiefergehende Überprüfung gedruckt? Warum explizit als Autobiografie?
Ein Rattenschwanz von Themen hängt da dran: Kulturpolitische, ethische, rechtliche, psychologische Fragen. Schuldzuweisungen. Schuldgeständnisse.
Das Paradox, dass jemand, der sich innerlichst als Jude fühlt, sich auf eine explizit antisemitische Handlung einlässt und mit öffentlichen Auftritten echte Holocaust-Überlebende verhöhnt.
Das Unwahre zuerst
Ein grosses Verdienst des Films ist es, dass er Ordnung in dieses Durcheinander bringt, ohne dass die Spannung jemals abflacht. Der Filmemacher Rolando Colla hat seinen Film sorgsam in Kapitel gegliedert, oder wie er sie treffender nennt: Geschichten. Es geht los mit der falschen Geschichte: Mit der Kindheit im KZ, die es gar nicht gab.
Der Film erzählt das zum Auftakt in starken Bildern: Archivaufnahmen, aber auch unheimliche Illustrationen von Thomas Ott, die eigens für den Film angefertigt und animiert wurden. Da stutzt man: Warum verwendet Rolando Colla soviel Zeit (und Geld) für den denjenigen Teil der Geschichte, der nachweislich nicht stimmt?
Der Auslöser war echt
Der Grund dafür: Collas Film legt nahe, dass Wilkomirski nicht kaltblütig gelogen, sondern konfabuliert hat. Was er da niederschrieb, war eine ernsthafte Verarbeitung seiner tatsächlichen Kindheitstraumata, die er in der Schweiz als Adoptivkind durchlebt hatte – nur hielt er es für legitim, diese Erinnerungen ins KZ zu verlegen.
Am Schluss des Films steht dann Wilkomirski selbst: Ein verbittert wirkender Mann, fast achtzig Jahre alt, der an Stöcken geht und im Wohnzimmer raucht, und der sich vor der Kamera als praktizierender Jude zeigt: Er zündet am Chanukkafest die traditionellen Kerzen an.
Biografie als Bumerang
Als Wilkomirski dann seine Sicht auf die Sache darlegt, sei es auch ausweichend und wortkarg, dann ist das emotional verbindlich. Man spürt: Seine Vortäuschmanöver haben tiefe Spuren hinterlassen. Er hat doch eigentlich nur nach sich selbst gesucht.