Der Journalist Eric Breitinger hat in seinem Buch «Vertraute Fremdheit» 16 Adoptierte jeden Alters porträtiert. Selbst adoptiert, spricht er kritisch über Adoption und die Schwierigkeiten vieler Adoptierter im Leben zu Recht zu kommen.
SRF: Sie haben für Ihr Buch «Vertraute Fremdheit» 16 Adoptierte porträtiert. Haben sie einen gemeinsamen Nenner gefunden? Kann man sagen, dass die meisten Adoptierten unter einem ähnlichen Trauma leiden?
Eric Breitinger: Ja – alle haben das Trauma des Weggegebenseins. Beinahe alle müssen damit klar kommen, eine soziale Familie und biologische Eltern zu haben. Viele leiden dazu noch darunter, dass sie ihren Adoptiv-Eltern in keiner Weise ähnlich sehen und sich in der neuen Familie oft fremd fühlen. Zudem fehlen ihnen die Wurzeln, also das Wissen darüber, woher sie kommen.
Wie zeigt sich das Trauma des Weggegebenen im Alltag?
Ich beobachte bei vielen ein sehr fragiles Selbstwertgefühl – eine Folge eben dieser Kränkung, als Kind verlassen worden zu sein. Manche fühlen sich ihr Leben lang Second-Hand. Zudem leiden verlassene Kinder überproportional an Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefiziten.
Sie sagen, Adoption sei ein lebenslanger Prozess und besonders die «Scharnierstellen» im Leben, also Pubertät, Berufswahl, bevorstehende Elternschaft und die Gestaltung des eigenen Alters seien schwierig – weshalb?
Adoptierten fehlt wie gesagt die Verwurzelung. Viele wissen kaum etwas über die biologische Familie, darum fehlt ihnen in solch wichtigen Momenten die Orientierung. Adoption ist nicht nur ein lebenslanger Prozess sondern eine lebenslange Herausforderung! Auch Partnerschaften gehören dazu. Spät adoptierte Kinder haben nicht selten derart Angst vor Trennungen, dass sie sich erst gar nicht auf Beziehungen einlassen.
Welche Kinder haben die besten Entwicklungsvoraussetzungen bei ihrer sozialen Familie?
Alle Studien sagen, dass bei Kindern, die kurz nach der Geburt bis zum Alter von sechs Monaten weggegeben werden, eine gute und stabile Bindung an die neuen Eltern entstehen kann.
Im «CLUB» vom 4. November berichtet eine Adoptierte, sie habe ihre Geschichte immer auch als grosses Glück erlebt. Adoption als besondere Chance fürs Leben?
Aber natürlich – Ja! Menschen wie Apple-Gründer Steve Jobs sind ein gutes Beispiel dafür, dass Adoptierte unter Umständen ein Gefühl der Ungebundenheit haben, welches viel Platz für Kreativität und Entfaltung lässt. Man kann neue Wege gehen und klebt nicht an Traditionen.
Sie kannten Ihre leibliche Mutter, hatten immer wieder Kontakt zu ihr und wuchsen bei einer Pflegefamilie auf. Mit 18 Jahren liessen sich von ihren Pflegeeltern adoptieren. Ist eine solche Familiensituation nicht sehr verwirrend für ein Kind?
Ja und Nein. Natürlich waren die Besuche bei meiner biologischen Mutter manchmal seltsam und aufwühlend. Trotzdem erwiesen sie sich im Nachhinein als Glück. Meine Mutter hat sich stets um Kontakt zu mir bemüht. Ich habe nur selten an ihrer Liebe zu mir gezweifelt. Als Erwachsener konnte ich mich leicht von dem Gedanken verabschieden, dass es «meine Schuld» war, dass sie mich nicht bei sich behalten hat. Hätte ich sie nicht gekannt, wäre mir das vermutlich schwerer gefallen. Meine Interviews zeigten zudem: Es lohnt sich für erwachsene Adoptierte, die ihre Eltern noch nicht kennen, sich auf die Suche nach ihnen zu machen.
Würden Sie selber Kinder adoptieren?
Diese Frage kann ich nicht beantworten. Vielleicht hätte ich Kinder adoptiert, wenn ich keine eigenen gehabt hätte.
Interview: Andrea Christener