«Hast du deine Geschichte schon mal erzählt?», fragt der Regisseur Jonas Poher Rasmussen seinen engen Freund Amin. «Nein», antwortet dieser. Das ändert sich bald. Denn für Rasmussens Dokumentarfilm «Flee» teilt Amin seine Erlebnisse zum ersten Mal mit einer anderen Person.
Er erzählt von seiner glücklichen Kindheit in Afghanistan. Vom Tag, an dem sein Vater von der Polizei abgeholt wurde und die Familie ihn zum letzten Mal sah. Von der Flucht nach Russland. Und von der illegalen Reise nach Dänemark, die von zwielichtigen Schleppern organisiert wurde.
In Dänemark lernte Amin Rasmussen kennen, als sie beide Teenager waren. Sie wurden schnell zu Freunden. Gut 25 Jahren liegt das nun zurück. Die Wahrheit über seine Vergangenheit erzählte Amin aber bis zum Filmprojekt nie.
Über mehrere Jahre hinweg interviewte der Regisseur seinen Freund. Langsam verstand er Amins Geschichte. Diese sehr detaillierten und persönlichen Interviews hört man im Dokumentarfilm «Flee».
Narben bis heute
«Ich kenne Amin, seit ich 15 Jahre alt bin. Seine Geschichte nach all dieser Zeit zu hören, war aussergewöhnlich», erzählt der Regisseur. «Am meisten erstaunt hat mich, wie sehr seine Vergangenheit noch immer sein Leben beeinflusst. Wie er seine Geschichte all die Jahre mit sich herumgetragen hat.»
Selbst nahestehenden Menschen erzählte Amin, seine Familie sei tot. Das hatten ihm die Schlepper als Teenager eingebläut. Da er ausgeschafft worden wäre, wenn die Behörden erfahren hätten, dass ein Teil seiner Familie nach Schweden und der andere Teil nach Russland geflüchtet war.
Obwohl Amin jetzt bereit ist, seine Geschichte in den Interviews zu teilen, möchte er anonym bleiben, um sich selbst und seine Familie zu schützen. Eigentlich heisst er anders. Und auch sein Gesicht will er nicht zeigen. Deshalb ist der ganze Film animiert.
80 Preise, 3 Oscar-Nominierungen
Das ermöglicht es, tief in Amins Geschichte einzutauchen. Der Film zeigt sein Leben in Afghanistan und Russland in den 1980er- und 1990er-Jahren. Und die traumatische Flucht, für die er seine Familie zurücklassen musste.
«Flee» ist die erste Kino-Produktion überhaupt, die gleichzeitig für einen Oscar als bester internationaler Film und je einen Oscar als bester Dokumentarfilm und bester Animationsfilm nominiert wurde. 80 Preise hat die Doku bisher gewonnen.
Der Preis des Schweigens
In einem Interview sagt Amin, es sei seltsam für ihn, seine eigenen Erlebnisse auf der Leinwand zu sehen, selbst wenn sie anonymisiert sind. Denn seine Vergangenheit bestimmte sein Leben jahrzehntelang.
Seine wahren Gefühle teilte er mit niemandem. Und konnte sie so auch nicht verarbeiten.
«Damals hatte ich nicht viel Zeit, um über meine Erlebnisse nachzudenken und richtig zu fühlen», erinnert sich Amin. Sie seien immer auf der Flucht gewesen. «Bei Rückschlägen mussten wir sofort wieder auf die Beine kommen, um zu überleben. Erst durch den Film konnte ich die Gefühle wirklich zulassen.»
Heute lebt Amin mit seinem Ehemann in Dänemark. Mit dem Film ist er weitgehend zufrieden. Nur sein Partner hat einen Kritikpunkt: «Ihm gefällt nicht, wie er als Animationsfigur aussieht.»
Kinostart 21.7.2022