Nicht nur die private, sondern auch die politische Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine ist gross: So erhalten ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz den Schutzstatus S. Dieser bietet unkomplizierten Schutz, zum Beispiel ein automatisches Aufenthaltsrecht ohne Asylverfahren.
Flüchtlingen aus anderen Konfliktgebieten, wie beispielsweise Syrien oder Afghanistan, wird ein solcher Schutzstatus verwehrt. Inés Mateos, Expertin für Diversität und Bildung, erklärt im Interview, wie sich diese Ungleichbehandlung erklären lässt.
SRF: Im Tram zum Basler SRF-Studio stand auf dem Bildschirm auf Deutsch und Ukrainisch, dass Geflüchtete aus der Ukraine das Tram gratis benutzen dürfen. Das hat mich gerührt. Berührt Sie das auch?
Inés Mateos: Ja, sehr. Diese private und politische Solidarität ist eine gute Solidarität. Sie zeigt nicht nur, was mit Empathie möglich ist, sondern auch, was eine gute Asylpolitik wäre: nämlich der Schutzstatus S. Eine einfache, sofortige Aufnahme.
Als der Syrienkrieg ausbrach oder Afghanistan von den Taliban überrannt wurde, gab es keine solchen Tram-Anzeigen. Weshalb?
Unsere Solidarität ist nicht hierarchiefrei. Wir leben in einem System mit vielen diskriminierenden Momenten, besonders in der Migrationspolitik. Das zeigt sich jetzt deutlich.
Es ist ein krasser Doppelstandard. Da macht sich auch Resignation und Ohnmacht breit.
Wie wird die Situation der ukrainischen Flüchtlinge in der Schweiz von Geflüchteten aus anderen Ländern wahrgenommen?
Einerseits ist die Solidarität bei ihnen gross. Sie wissen, was Krieg bedeutet. Gleichzeitig stellen sie fest, dass sie anders behandelt werden und ihre Asylverfahren auf Eis gelegt werden.
Für sie bleiben die Hürden, Restriktionen und Unsicherheiten hoch. Es ist ein krasser Doppelstandard. Da macht sich auch Resignation und Ohnmacht breit.
Wir erleben einerseits eine Offenheit in der Schweiz aber gleichzeitig auch eine Abwehr. Wie gehen Migrantinnen und Migranten damit um – wie sehen das Menschen, deren Eltern in die Schweiz eingewandert sind?
Nicht wenige sagen, dass sie das nicht überrasche. Die Schweiz sei halt rassistisch. Und in diesem Fall muss ich dieser Interpretation leider zustimmen. Wie soll man die Ungleichbehandlung von Geflüchteten sonst verstehen?
Offenbar spielt die Herkunft der Geflüchteten eine Rolle dabei, ob wir eine geografische Nähe spüren oder nicht.
Man kann auch anders argumentieren: Die Ukraine ist uns näher als Syrien, deshalb sind die Betroffenheit und Solidarität grösser. So wie einen die Krebserkrankung einer Tante betroffener macht als die weltweite Krebsstatistik.
Das ist ein nachvollziehbares, aber selektives Argument. Als vor Kurzem Menschen aus Afghanistan und Syrien an der geschlossenen polnischen Grenze erfroren, herrschte hierzulande eher die Haltung, Polen sei weit weg und das gehe uns nichts an.
Jetzt, wo Menschen aus der Ukraine Schutz suchen und Polen die Grenzen öffnet, ist uns Polen plötzlich nah. Offenbar spielt die Herkunft der Geflüchteten eine Rolle dabei, ob wir eine geografische Nähe spüren oder nicht. Das ist Rassismus.
Dass die Schweiz den einen mehr hilft als den anderen, ist nicht neu. 1956 zum Beispiel hat sie nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes tausende ungarische Flüchtlinge kollektiv und unkompliziert aufgenommen …
… und im selben Jahr eine Gruppenaufnahme von jüdischen Flüchtlingen aus Ägypten abgelehnt. Die Schweiz nahm nur Einzelfälle auf und stellte die Kosten dafür jüdischen Organisationen in Rechnung.
Dass die Schweiz mit den ungarischen Flüchtlingen anders umging als mit den jüdischen, lag neben Rassismus und Antisemitismus auch an der Logik des Kalten Kriegs.
Tatsächlich wird die Haltung der Schweiz gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen mit jener nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes verglichen. Im Sinne von: Wer vor den Russen flüchtet, verdient Schutz. Ist das eine legitime Zuspitzung?
Wer damals vor dem Kommunismus geflüchtet ist, verdiente Schutz. Aber zur selben Zeit gab es in Chile eine schreckliche Diktatur, doch der Bund weigerte sich lange, Chilenen und Chileninnen aufzunehmen. Gerade aus Angst, sich Sozialisten ins Land zu holen.
Zurück zur Gegenwart: Wird die derzeitige grosse Solidarität mit den ukrainischen Geflüchteten bleiben? Oder besteht die Gefahr, dass der Wind dreht, und sie Ressentiments ausgesetzt sind?
Ich will hoffnungsvoll sein. Europa und die Schweiz zeigen im Moment, was wir können, wenn der politische Wille da ist. Ich hoffe, dass wir daraus für die Zukunft lernen. Für eine humanitäre Schweiz, die diesen Namen verdient.
Das Gespräch führte Anna Jungen.