Aus Nicaragua kommen wenig Spielfilme. Es gibt keine Branche im Land, kaum Ausbildung und technische Fachkräfte. Das Geld muss im Ausland beschafft werden: Nicaragua gehört zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas. Aber gerade das wäre ja – zusammen mit der vertrackten politischen Lage des Landes – der Stoff für wichtige, aufrüttelnde Geschichten.
«La hija de todas las rabias» trägt die Unmut bereits im Namen: Mit «Die Tochter aller Wut» könnte man den Titel übersetzen. Gleich eingangs zeigt der Film die Armut des Landes von ihrer plakativsten Seite: Auf einer Müllhalde stochern Kinder mit spitzen Stäben nach Abfällen mit Restwert. Sie finden Plastiksäcke mit Leichenteilen, die eine Ambulanz dort deponiert hat – was die Kids nicht irritiert, eher belustigt.
Mit diesem makabren Prolog hält die Autorin und Regisseurin Laura Baumeister fest: Die Menschen hier haben nur das Notwendigste zum Leben. Und geben trotzdem nicht auf. Diese Haltung zu verstehen, das ist wichtig: Der Film «La hija de todas las rabias» prangert zwar unmissverständlich an, was er zeigt – aber er erzählt nicht nur vom Elend, sondern von Durchhaltewillen und Resilienz.
Wie bei Charles Dickens
Sinnbildlich für diese Haltung steht die weibliche Hauptfigur. Die 11-jährige Maria hat es von ihrer Mutter gelernt: «Wenn du etwas willst, dann musst du dafür kämpfen.»
An dieses Motto hält sich Maria auch, als sie durch eine Verkettung von Umständen von ihrer Mutter getrennt und zur Kinderarbeit gezwungen wird. Wie einst Charles Dickens' Romanfigur Oliver Twist hält sie alle Widrigkeiten aus, clever, kämpferisch, nur ein Ziel vor Augen: Sie will ihre Mutter zurück.
Schlicht ein Meisterstreich
«La hija de todas las rabias» ist ein Kunstwerk, eine intensive cineastische Erfahrung, eine unbedingte Empfehlung. Für dieses Urteil gibt es einen subjektiven Grund: Die letzten Minuten des Films – sie sind dem magischen Realismus verpflichtet und keineswegs deprimierend – haben mich zu Tränen gerührt. Es gibt aber auch objektive Gründe.
Wie gesagt: Aus Nicaragua kommen wenig Filme. Umso grösser ist die Überraschung, wie formvollendet und emotional treffsicher «La hija de todas las rabias» sich präsentiert.
Es handelt sich um den Spielfilmerstling einer nicaraguanischen Filmemacherin, die auch in Gesellschaftskunde ausgebildet ist, und das zahlt sich aus: Alles, was die Soziologin Baumeister zu sagen hat, verpackt die Drehbuchautorin Baumeister in einen aufregenden Handlungsfluss mit vielen Schauplätzen und Wendepunkten.
Flotter Schnitt, starkes Spiel
Zwei weitere Faktoren verdienen Bewunderung: Der Film ist ungewohnt temporeich geschnitten, aber nie hektisch oder unübersichtlich. Bis zur traumartigen Schlusssequenz dauert kaum eine Einstellung länger als zehn Sekunden. Damit ein solcher Kraftakt im Schneideraum überhaupt möglich ist, müssen alle gefilmten Szenen von langer Hand vorbereitet worden sein.
Schliesslich zeugt ein letzter Aspekt von der Sorgfalt und Hingabe, die Laura Baumeister und ihre Kamerafrau Theresa Kuhn in dieses Projekt gesteckt haben: Die Hauptdarstellerin Ara Alejandra Medal. Wer ein Kind ohne jegliche Ausbildung zu einer solchen Höchstleistung animiert und es dabei auf Augenhöhe einfangen kann, hat einen Orden in Schauspielführung verdient.
Kinostart: 06.07.2023