Orson Welles war ein Genie, keine Frage. Aber die Eckpfeiler von «Citizen Kane», dem Fundament von Welles’ Werk, schlug sein Co-Autor ein: Herman J. Mankiewicz.
Der Drehbuchschreiber, den alle nur «Mank» nannten, war im Hollywood der 1930er-Jahre ein gefragter Mann. Trotz seiner Alkoholsucht, die ihn langsam zugrunde richtete. Und trotz seiner Gewohnheit, die Mächtigen mit spitzer Feder zu karikieren.
So ist «Citizen Kane» im Grunde das stilisierte Porträt von Medienmogul William Randolph Hearst. Mehr noch: Pikanterweise soll «Rosebud», das Schlüsselwort des Films, im richtigen Leben eine ganz andere Bedeutung gehabt haben. Angeblich nannte Hearst so die Klitoris seiner Geliebten.
Hollywood, unzensiert
Unbestritten ist: Hearst pflegte eine Langzeit-Affäre mit Schauspielerin Marion Davies, die wiederum Mankiewicz gut kannte. Ob «Rosebud» tatsächlich der geheime Kosename von Davies’ «Rosenknospe» war, werden wir wohl nie wirklich wissen.
Analog zu dieser Anekdote erzählt «Mank» viele Interna aus den Zirkeln der Traumfabrik, für die gilt: Sollten sie nicht wahr sein, sind sie zumindest gut erfunden.
So gut, dass der Film sogar diejenigen unterhält, die sich bislang nicht für die Blütezeit des US-Studiosystems interessiert haben.
Kontrastreiches Schauspielkino
Getragen wird das humorvolle, in strahlenden Schwarzweiss-Bildern gefilmte Drama von seiner hochkarätigen Besetzung.
Gary Oldman brilliert durch eine Performance, die Manks Beobachtungsgabe zwischen Klarsicht und Delirium einfängt.
Und Amanda Seyfried lässt als Marion Davies immer wieder gekonnt durchscheinen, was für eine vielschichtige Persönlichkeit die Schauspielerin gewesen sein muss.
Fincher & Fincher
«Mank» dürfte beim cinephilen Zielpublikum aus diversen Gründen auf reges Interesse stossen. Allein schon, weil die Netflix-Produktion der erste David-Fincher-Film seit sechs Jahren ist.
Zumal Finchers Name noch immer als Gütesiegel funktioniert: Für anspruchsvolles Kino, das auf der schmalen Schnittstelle zwischen Arthouse und Mainstream balanciert.
Für David Fincher selbst ist «Mank» ein sehr persönlicher Film: Das Drehbuch stammt aus der Feder seines Vaters Jack. 2003 starb der Autor an einem Krebsleiden, bevor sein Herzensprojekt verfilmt werden konnte. Die Inszenierung von Jack Finchers Skript stellt für die ganze Fincher-Familie darum eine grosse Genugtuung dar.
Netflix will den totalen Triumph
Aus filmkritischer Sicht ist «Mank» ein hochwertiges Kleinkunstwerk ohne echtes Manko. Kein Wunder, dass Netflix mit dem Oscar liebäugelt. Der limitierte US-Kinostart des neusten David-Fincher-Films – kurz vor der Freischaltung auf der Streaming-Plattform – dient primär diesem Zweck.
Auch wenn wegen der Pandemie diesmal ausnahmsweise sogar Filme ins Oscarrennen geschickt werden dürfen, die noch gar nicht im Kino liefen. Ein geplanter Starttermin würde reichen. Der Streaming-Gigant macht hier also mehr, als er müsste. Vielleicht, weil er den totalen Triumph will. Die Rechnung könnte aufgehen.
Denn wir erinnern uns: Das letzte Mal, als Gary Oldman einen bettlägerigen Alkoholiker spielte, gewann er dafür einen Oscar. Das war 2018 für seine Verkörperung von Sir Winston Churchill in «The Darkest Hour». Es wäre dem britischen Ausnahmekönner zu gönnen, wenn sich die Geschichte wiederholen würde.
Kinostart: 19. November 2020 (ab 4. Dezember auf Netflix)