Die englische Presse nennt ihn den «britischen Schindler». Denn Nicholas Winton hat während des Zweiten Weltkriegs die Flucht von 669 jüdischen Kindern aus der besetzten Tschechoslowakei ermöglicht – und ihnen damit das Leben gerettet.
Zusammen mit anderen Helferinnen und Helfern beschaffte er den Kindern Pflegeeltern in England, Visa und organisierte Sonderzüge, die sie von Prag durch Deutschland in die Niederlande und schliesslich nach London brachten.
Blick auf Tugend statt auf Täter
Wenn Winton der «britische Schindler» ist, ist der Film über ihn dann das britische «Schindlers Liste»? Die Parallelen sind offensichtlich, ebenso die Unterschiede. Winton handelt vor dem Kriegsausbruch aus dem sicheren England. Er ahnte zwar die Schrecken des Holocaust, musste sie aber nicht direkt miterleben.
«One Life» will nicht aufrütteln, sondern Hoffnung zeigen. Ihm gelingt es, inmitten des grössten Horrors eine Feelgood-Geschichte zu erzählen. Der Film ist damit das genaue Gegenteil des aktuell gefeierten Holocaust-Films «The Zone of Interest».
Wo jener auf die Täter und den Schrecken schaut, sucht «One Life» nach Rettern, die Hoffnung stiften. Nicholas Winton hätte dieses Vorhaben wohl unterstützt. Zwar mied der bescheidene Wohltäter jegliches Aufsehen, das um seine Person gemacht wurde, fand es aber gleichzeitig wichtig, dass seine Geschichte und die der geretteten Kinder weitererzählt wird.
Treffen vor laufender Kamera
Das geschah erst spät: Nachdem Winton fast 50 Jahre lang gänzlich unbekannt geblieben war, geriet er 1988 wegen eines Fernsehauftritts in die Öffentlichkeit. Die BBC-Sendung «That’s Life» hatte neben Winton auch sieben Personen eingeladen, die einst mit einem Kindertransport nach England gekommen waren. Sie alle hatten zuvor nicht voneinander gewusst. Unverhofft begegnete Winton vor laufender Kamera den Menschen, die ihm ihr Leben verdanken.
Diese Begegnung ist ein hochemotionaler TV-Moment, der ans Herz geht. Dabei macht sie Winton zum Helden – zu dem, was Winton nicht sein wollte. Und dabei geht vergessen, dass Winton keineswegs allein handelte, sondern gemeinsam mit zahlreichen Helferinnen und Helfern, die sich in der besetzten Tschechoslowakei teilweise grosser Gefahr aussetzten.
«One Life» kritisiert diese Heldenverehrung, kommt aber auch nicht ohne sie aus. Die rührende Begegnung im TV ist auch der emotionale Höhepunkt des Filmes, macht ihn im Grunde erst möglich. Denn so verdienstvoll Wintons Arbeit zweifelsohne war – besonders bildstark war sie nicht. Winton telefonierte, schrieb Briefe, sprach auf Ämtern vor.
Simple Botschaft, starke Besetzung
Dass «One Life» dennoch ein bewegender Film geworden ist, liegt an seiner Hauptfigur und seinen Hauptdarstellern. Johnny Flynn spielt den jungen Winton als beherzten Optimisten, der sich aus ehrlicher Empörung in der Pflicht sieht, Hilfe zu leisten.
Der gealterte Winton wird von Anthony Hopkins wunderbar gespielt. Er gibt ihn als liebenswürdigen, wenn auch leicht störrischen Rentner. Diese Störrischkeit ist denn auch das Erfolgsrezept, mit der er sein humanitäres Anliegen durch die Mühlen einer im Grunde unmenschlichen Bürokratie bringt.
Der Film proklamiert, dass es das selbstlose Engagement gewöhnlicher Menschen braucht, um die Welt besser zu machen. Diese Botschaft mag simpel sein, aber sie ist von zeitloser Gültigkeit.