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Filmkritik «Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush»
Aus Kultur-Aktualität vom 12.05.2022. Bild: Filmcoopi
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Neu im Kino Raus aus Guantánamo: Eine Mutter auf Mission

Was tun, wenn der eigene Sohn wegen Terrorismusverdachts in Guantánamo landet? «Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush» macht's vor.

Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Der in Bremen wohnhafte Türke Murat Kurnaz war in Pakistan, und das kurz nach dem 11. September 2001. Was dann passierte, klärt sich erst später.

Ob er sich dem radikalen Islam zuwandte? Vielleicht. Jedenfalls landete er in Guantánamo, eingestuft als «feindlicher Kämpfer». Ohne ein Verfahren. Ohne Beweise für terroristische Aktivitäten. Ohne Unschuldsvermutung. Satte fünf Jahre lang.

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Trailer zu «Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush»
Aus Kultur Extras vom 13.05.2022.
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Der Fall Murat Kurnaz steht für vieles: Für das Aushebeln von Grundrechten, für mediale Vorverurteilung, für ein Versagen nicht nur der US-amerikanischen, sondern auch der deutschen Politik.

Das ist Stoff genug für einen Regisseur wie Andreas Dresen («Als wir träumten»). Er wollte das verfilmen, aber er wusste zuerst nicht wie: «30 Minuten Folter – wer will sich denn sowas anschauen?»

Das breite Publikum im Blick

In dieser Antwort schwingt mit: Dresen macht Publikumsfilme. Gesellschaftlich engagierte Filme, aber leicht zugängliche Publikumsfilme. Eine radikale Anklage ans System interessiert ihn nicht, wenn sie nicht mit einer starken Geschichte verbunden ist, für die möglichst viele Menschen eine Kinokarte kaufen.

Eine Mutter am Telefon, zwei Kinder schauen zu.
Legende: Kein Kindergeburtstag: Wie steht man es durch, wenn der Sohn in Guantánamo sitzt? Filmcoopi

Die Lösung fanden Dresen und seine Drehbuchautorin Laila Stieler durch einen genialen Perspektivenwechsel: Der Film erzählt nicht die Geschichte von Murat, sondern diejenige seiner Mutter.

Wie ihr Sohn eines Tages verschwindet, und wie sie danach zusammen mit einem Menschenrechtsanwalt alle Hebel in Bewegung setzt, um ihn aus dieser Haft herauszubekommen. Wie sie selbst vor Washington nicht Halt macht.

Impulsiv und hartnäckig

«Runter von meinen Schneeglöckchen», sagt Rabiye Kurnaz (Meltem Kaptan) zur Presse, die sich einmal unverhofft vor ihrer Wohnungstür einfindet, weil «hier ein Taliban leben soll».

Sie ist nicht aufs Maul gefallen. Sie ist impulsiv, hochemotional, humorvoll, geerdet und sie ist, Verzeihung, verdammt hartnäckig. Sie ist die Kraft, die macht, dass man diesen Film zu Ende sehen will.

Ein Mann und eine Frau in einem offenen Wagen.
Legende: Wurde an der Berlinale als beste Schauspielerin ausgezeichnet: Meltem Kaptan als Murats Mutter. Filmcoopi

Man könnte Stieler und Dresen vorwerfen, dass sie die Handlung an manchen Stellen allzu sorglos mit Unterhaltungswert aufpeppen. Das «David gegen Goliath»-Prinzip wird unzweideutig ausgereizt, mit den Guten unten und den Bösen oben. Der Film erzählt einen jahrelangen Kampf gegen die Behörden in sprunghaften, chronologisch geordneten Episoden.

Mit Zahlen Mitgefühl wecken 

Andreas Dresen greift dabei auf einen Kniff zurück: «Wir blenden jeweils ein, wie viele Tage bereits vergangen sind, seit Rabiye ihren Sohn nicht mehr gesehen hat. Eine grosse Zahl, die immer grösser wird. So spürt man ihr Leiden und ihre Sehnsucht.»

Der diesjährigen Berlinale-Jury ist es nicht entgangen, wie gut diese Erzählweise funktioniert: Sie hat Laila Stieler für ihr Drehbuch einen Silbernen Bären verliehen. Und sie hat  Meltem Kaptan als Beste Schauspielerin ausgezeichnet.

Völlig zu Recht: Kaptan füllt ihre leicht naiv gezeichnete Figur mit derart viel Kraft und Leben, dass man als Publikum nicht von ihrer Seite weichen will.

Bis sie erreicht, was sie verlangt: ihren Sohn. In ihren Armen.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 12.5.2022, 8:15 Uhr

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