Aufregend ist die Sexszene nicht – aber folgenschwer. Der erfolgreiche Singer-Songwriter Carsten, 55, hat eine Affäre mit der Musik-ambitionierten Leonie, der besten Freundin seiner Tochter. Diese Affäre bröckelt nun – Carsten möchte Ordnung in sein Leben bringen und Leonie nicht im Vorprogramm seiner Tour auftreten lassen.
Leonie und Carsten haben schon miteinander geschlafen und tun es auch diesmal wieder. Mit einem Unterschied: Leonie sagt Nein. Aber es ist spät am Abend, beide sind angetrunken, und so passiert es trotzdem – kurz, aber nicht schmerzlos.
Das Publikum ist angehalten, genau hinzuschauen: Jede Silbe, jede Bewegung ist wichtig, denn Leonie wird am nächsten Tag ihre Fangemeinde darüber informieren, dass sie vergewaltigt wurde.
Das Publikum muss wissen, ob das stimmt: Es war dabei. Die ganzen 37 Sekunden lang.
Toxisch in alle Richtungen
Früh wird klar: Das Drehbuch zu «37 Sekunden» – es stammt nicht von Bettina Oberli – verfolgt einen weit raffinierteren Plan, als nur einen Akt der männlichen Übergriffigkeit anzuprangern. Die Autorin Julia Penner und der Autor David Sandreuter interessieren sich nicht für eine simple Schuldzuweisung. Sie schildern ausführlich, wie durch den Übergriff gleich beide Hauptfiguren aus der Bahn geraten.
Diese Strategie hält die Spannung aufrecht, gefährdet aber an gewissen Stellen die psychologische Glaubwürdigkeit der Figuren. Hier kommt nun die Regie von Bettina Oberli ins Spiel: Wesentlich sanfter als in ihrem letzten Spielfilm «Wanda, mein Wunder» – in dem sie ebenfalls eine Familie implodieren liess – stellt sie sicher, dass man den Figuren auch dann nahe bleibt, wenn sie arge Fehler begehen.
Das Publikum darf seine Sympathien nach Gutdünken verteilen: Carsten wird nicht als ein Unmensch gezeigt, sondern als ein sensibler Künstler, dessen Karriere jetzt abrupt enden könnte. Und Leonie tritt mit ihrem Gang an die Öffentlichkeit eine Kette von Ereignissen los, die nicht nur Presse, Justiz und die Musikindustrie auf den Plan rufen, sondern auch sie selbst und diverse Beteiligte an ihre Grenzen bringen.
Eine Zwickmühle mit Kollateralschäden
In diesem Zusammenhang spart die Dramaturgie nicht an Effekten: So ist etwa Leonies beste Freundin Clara nicht nur die Tochter des Vergewaltigers, sondern von Beruf Anwältin. Sie steht Leonie instinktiv zur Seite – bis sie herausfindet, wer der Beschuldigte ist. Eine Zwickmühle, in der sich Clara befindet.
Mit Clara hat das Drehbuch-Duo auf geschickte Weise eine Figur entwickelt, die private und berufliche Interessen abwägen muss. Das müssen (fast) alle Figuren in dieser Geschichte, wobei sich für die meisten von ihnen die Lage von Folge zu Folge verschlechtert.
Die Empathie funktioniert
Diese Komplikationen werden mit dem Ernst erzählt, den die dramatische Ausgangslage verlangt. In späteren Folgen sorgen weitere Wendepunkte für Plot-Twists.
Die Nähe zu den Figuren bewirkt, dass «37 Sekunden» nie zum Vorführstück seiner aktuellen, gewichtigen Themen wird – «No Means No», #MeeToo, Cancel Culture. Vielmehr erzählt die Serie eine zeitlose Geschichte von Menschen, die sich wiederholt verletzen, ohne das wirklich zu wollen.