Der Medienwissenschaftler Henry M. Taylor hat ein Buch über Verschwörungen in Film und Fernsehen geschrieben: «Conspiracy!». Ein Gespräch über Verschwörung und lustvolles Abdriften in Paranoia.
SRF: Warum sind Verschwörungstheorien so populär?
Bei Verschwörungstheorien geht es um das Geheime, und das ist immer faszinierend. Verschwörungstheorien bestärken das Gefühl, dass die wirkliche Wirklichkeit im Geheimen verborgen liegt.
Warum sind konspirative Fantasien gerade heute so beliebt?
Die konspirative Fantasie wird gerade dann in Gang gesetzt, wenn es grosse politische Spaltungen gibt. Wir hatten einen Schub während der Präsidentschaft von George W. Bush. Nun sitzt einer der grössten Verschwörungstheoretiker im Weissen Haus.
Aber auch eine allgemeine gesellschaftliche Unsicherheit befeuert Konspirationismus. Ausserdem ist heute am Arbeitsplatz ein gehöriges Mass an Misstrauen angesagt.
Warum das?
Paranoia ist im Grunde genommen die Ideologie, die zur Wettbewerbsgesellschaft passt: Du musst auf der Hut sein – und wissen, was die Konkurrenz macht.
Wie findet diese Art von Paranoia Einzug in den Film?
All diese Unsicherheiten: die Finanzkrisen, der digitale Wandel, Menschen, die im Zuge der Automatisierung überflüssig werden – dafür gibt alle möglichen Angst-Szenarien, die im Film meistens einseitig und extrem dargestellt werden.
Eine Verschwörungstheorie ist in gewisser Weise auch eine Utopie.
Die Verschwörungstheorie ist in gewisser Weise eine Utopie: Man will damit Komplexität reduzieren und die Welt lesbar machen.
In Ihrem Buch schreiben Sie nicht von Verschwörungstheorien, sondern von Verschwörungsfiktionen. Was meinen Sie damit?
Vergleicht man die Struktur von historisch belegten Verschwörungen mit der typischen Struktur von Verschwörungstheorien, zeigt sich ein wesentlicher Unterschied: Reale Verschwörungen sind meistens kleinräumig, überschaubar und deren Absichten werden oft nicht erreicht.
Verschwörungstheorien hingegen ziehen riesige, rückwirkende Handlungsbögen, ohne jegliche Zufälle. Sie sind erfunden, wollen aber als echt wahrgenommen werden.
Eine Verschwörungsfiktion hingegen gibt sich von Anfang an als Fiktion zu erkennen und zielt auf Spannung und intelligente Unterhaltung ab.
Sind Verschwörungen im Spielfilm also «ehrlicher» als Verschwörungstheorien?
Ja, denn es wird keine Theorie aufgestellt, sondern eine Fiktion inszeniert. Verschwörungsfiktionen sind eine Art psychotischer Ausbruch auf kollektiver Ebene: Sie erlauben dem Publikum, sich auf die Verschwörung einzulassen.
Paranoiafilme spielen mit allem, was Verdacht und Misstrauen erzeugt.
Wir können Verschwörungsfiktionen ohne schlechtes Gewissen geniessen. Dahinter steht das Phänomen der «Suspension of Disbelief»: Der Zuschauer weiss sehr wohl, dass das, was er da sieht, nicht wirklich ist – aber dennoch will er daran glauben können.
Damit widersetzt sich der Zuschauer seinem eigenen Verstand. Wie wird Paranoia im Kino sichtbar?
Es wird mit allem gespielt, was Verdacht und Misstrauen erzeugt: vorenthaltener Dialog oder ikonographische Motive wie dunkle Sonnenbrillen oder Schleier. Diese versperren die Sicht und lassen eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit erahnen. Mit solchen gestalterischen Mitteln und Wissenslücken spielen Paranoiafilme.
Wie fühlt sich das Publikum bei einem gelungenen Paranoiafilm?
Es weiss zu wenig, um sich ein fundiertes Bild zu machen, aber es weiss zu viel, um es ignorieren zu können. Verschwörungsfiktionen müssen diesen Graubereich der Imagination aufmachen, um dem Publikum ein paranoides Vergnügen zu bieten.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Am Anfang des Polit-Thrillers «The Parallax View» (1974) wird uns eine Einstellung mit einem Politikberater gezeigt, der eigentlich zu den Guten gehören sollte. Eine dunkle Sonnenbrille verdeckt seinen Blick. Dann dreht er sich zur Seite und sagt für uns unhörbar etwas zu jemandem, den wir nicht sehen.
Der Sinn dieser Einstellung ist, beim Zuschauer einen Verdacht zu wecken. Auch der Bildausschnitt spielt mit: Es passiert vieles gleichzeitig, so dass der Zuschauer den Überblick verliert. So entsteht der Eindruck, hier sei eine Verschwörung im Gang, in die diese ganze filmische Welt verstrickt ist.
Haben Verschwörungsfiktionen ein politisches Gewicht?
Positiv gesagt: In Paranoiafilmen werden psychologische Fantasie-Szenarien durchgespielt. Im Sinne von: Man malt den Teufel an die Wand, damit er in der Wirklichkeit nicht erscheinen muss.
Nehmen wir einen Surveillance-Paranoiafilm: Erst werden Ängste angesichts einer möglichen Überwachung geschürt und es werden die Mittel dieser Überwachung gezeigt. Dadurch wird die reale Angst davor wieder entkräftet und beim Zuschauen kathartisch, also stellvertretend für das reale Durchleben der Angst, verarbeitet.
Gilt das etwa für «House of Cards»?
In Washington D.C. war «House of Cards» sehr beliebt und deren Hauptfigur Frank Underwood der grosse Held. Weil: «He gets things done».
Es ist ein Vergnügen, Frank Underwood bei seine perfiden Pläne zuzuschauen.
Viele Leute in Washington haben das Gefühl, dass durch das komplizierte politische System ständig irgendwas blockiert wird. Da ist es ein Vergnügen, Underwood dabei zuzuschauen, wie er seine perfiden Pläne realisiert.
Was ist der zurzeit progressivste Paranoiafilm?
Eine Serie: «Westworld». Deren Welt ist im Posthumanismus angekommen – mit programmierten Wesen, die reale Gefühle und einen eigenen Willen entwickeln können.
Dabei sind sie nahe an der Idee, die die amerikanische Biologin Donna Haraway in «The Cyborg Manifesto» festhält: Dass wir Mischwesen werden und uns damit identifizieren sollen.
Das Gespräch führte Ana Matijašević.