«Sie brauchen eine Werkbank mit einer eingelegten Glasplatte. Sonst nehmen Sie halt ihren besten Esstisch und sägen ein Loch hinein.»
Mit diesem Scherz erklärte Lotte Reiniger (1899 – 1981) gern, wie ihre Silhouetten-Filmkunst funktionierte. Das Licht kommt von unten. Die Hintergründe und die ausgeschnittenen Figuren werden aufs Glas gelegt. Und die Kamera nimmt von oben Einzelbilder auf.
Eine an sich rudimentäre Technik. Aber Reiniger schuf damit über Jahrzehnte hinweg Werke von atemberaubender Schönheit. Gleich mehrere ihrer Talente kamen dabei zum Tragen.
Einfallsreiche, schalkhafte Erzählerin
Reiniger war begnadet im Ausschneiden von Figuren und Ornamenten. Sie hatte einen präzisen Sinn für die zeitliche Aufteilung von Bewegungsabläufen. Sie verstand das Zusammenspiel von Licht und Schatten und war überdies eine einfallsreiche, schalkhafte Erzählerin.
Anregender Stilmix
Auf der ästhetischen Ebene kommt in Lotte Reinigers Filmen eine ganze Menge zusammen: Romantische Märchen- und Musikmotive werden eingebettet in eine ausgefeilte Jugendstil-Bilderwelt mit reichlich orientalischen Anleihen und einer gelegentlichen Prise Slapstick.
Auch expressionistische Züge finden sich, namentlich in den frühen Filmen – schliesslich war der Expressionismus auch die taktangebende Kunstrichtung zur Zeit von Reinigers erster Blüte in der Weimarer Republik.
Als Meilenstein gilt Reinigers aufwendige Tausendundeine-Nacht-Variation «Die Abenteuer des Prinzen Achmed» (1926): Der Film ist mit seinen 96'000 Einzelbildern knapp über eine Stunde lang und damit der früheste erhaltene Animations-Langfilm der Filmgeschichte.
Und er ist ein wahres Fantasy-Spektakel: Zauberer, Hexen, Monster, Zwerge, eine verführerische Dämonenherrin, fliegende Pferde und eine Riesenschlange bevölkern die bewundernswert dicht erzählte Handlung.
Märchen und Musikclips
Später konzentrierte sich Reiniger wieder vermehrt auf Kurzfilme: Sie adaptierte Märchen und bebilderte zahlreiche Opernarien und Musikstücke (mit einer Vorliebe für Mozart).
Als Reaktion auf den Nationalsozialismus siedelten Reiniger und ihr Mann 1935 von Berlin nach London um, aber auch im Ausland und trotz Geldmangel blieb Reiniger ihrem Handwerk treu: Es entstanden etwa drei «Doktor Doolittle»-Filme. Später, in den 1950er-Jahren, produzierte Reiniger für die BBC in Farbe.
Zauberhafte Zwischenwelten
Wer sich heute einen Animationsfilm von Lotte Reiniger anschaut, wird entführt in eine radikal-poetische, völlig entrückte Welt: Alles spielt sich ab in einem traumartigen Zwischenraum, in dem sich grazile Wesen umtänzeln und necken in detailverliebten Chiaroscuro-Kabinetten.
Man erhält Einlass in ein kindliches Reich, in dem ausschliesslich die Fantasie walten darf, und in dem weder die Realität noch die Schwerkraft etwas verloren haben.