Es ist 2.40 Uhr am Morgen des 9. Dezember 2001. Ein Notruf geht ein.
«Meine Frau hatte einen Unfall. Sie atmet noch», sagt Michael Peterson (Colin Firth). «Was für ein Unfall?», fragt die Telefonistin. «Sie ist die Treppe hinuntergefallen. Sie atmet noch! Bitte kommen Sie!»
Als Ambulanz und Polizei das Haus in Durham, North Carolina erreichen, ist Kathleen Peterson (Toni Colette) tot. Das viele Blut am Treppenende macht die Ermittler misstrauisch. Sie erklären das Haus zum Tatort.
Das ist die Ausgangslage der HBO-Serie «The Staircase», zu Deutsch «Die Treppe». Tage später wird der 58-jährige Michael wegen Mordes an seiner Ehefrau angeklagt.
Wer ist Michael Peterson?
Der Tatverdächtige erscheint als ein intelligenter, wortgewandter, etwas überheblicher, aber scheinbar aufrechter, ehrlicher Typ, der seine Frau über alles geliebt hat.
Aber das Bild von Michael ändert sich schnell.
Während seiner gescheiterten politischen Karriere hatte der Ex-Marine behauptet, in Vietnam das Purple Heart, das Verwundetenabzeichen beim US-Militär, bekommen zu haben. Eine Lüge, die damals aufflog und von der Anklage gegen ihn benutzt wird. Was funktioniert, weil Michael nie eine glaubwürdige Erklärung für Lüge liefern konnte.
Die Zuneigung zur Ehefrau wird in Frage gestellt. Die Staatsanwaltschaft entdeckt bei Michael Pornobilder von nackten Männern und Typen, die behaupten, sie hätten mit ihm Sex gehabt. Michael gibt zu: Er ist bisexuell. Die Anklage sieht Eheprobleme als Mordmotiv.
Was ist Wahrheit?
Spätesten ab der zweiten Folge weiss der Zuschauer nicht mehr, was Sache ist. War es ein banaler Unfall oder ein Mord? Die Frage wird in «The Staircase» ständig gestellt, aber nicht beantwortet.
In der Welt der Serie gibt es keine Wahrheit. Das, was die Menschen dafür halten, wird durch das, was nicht gesagt wird und davon, wie etwas erzählt ist, geformt.
Anklage und Verteidigung sind Manipulatoren, die die Familienangehörigen und Zeugen wie Filmregisseur gekonnt in ihrem Sinne in Szene setzen, um die Geschworenen von der jeweiligen Wahrheit zu überzeugen.
Das hat Folgen. Die Petersons, anfangs als Bilderbuch-Patchworkfamilie gezeigt, brechen auseinander.
Der Staatanwalt zeigt den Schwestern und der leiblichen Tochter der toten Kathleen Fotos von den Verletzungen an Kopf und Körper. So überzeugt er sie von Michaels Schuld.
Die anderen Kinder, zwei Söhne aus Michaels erste Ehe und zwei Töchter, die er adoptiert hatte, stehen zwar nach aussen zum Vater, aber beginnen ihn zu hinterfragen und geraten in persönliche Krisen.
True-Crime-Trend
Wie zuletzt Serien wie «Inventing Anna», «The Dropout», «Pam & Tommy» oder «The Girl From Plainville» basiert «The Staircase» auf einem wahren Kriminalfall, der bereits in einem Artikel, Podcast oder Dokumentar-Serie behandelt wurde.
Nicht nach- sondern anschauen
Man kann also die Geschichte auf Wikipedia finden und vorab lesen, wie der Fall für Michael Peterson ausgegangen ist. Auch wenn der Ausgang für die gelungene Serie nicht wichtig ist, sei von der Netzrecherche an dieser Stelle abzuraten. Es ist einfach spannender, wenn man das Ende nicht kennt.
Mit acht Folgen ist das Ganze zwei Folgen zu lang, aber gerade die erste Hälfte zieht einen in den Bann. Das Familiendrama wird langsam und detailliert erzählt. Colin Firth («Bridget Jones's Diaries», «Kingsman: The Secret Service») agiert gewaltig und preisverdächtig.
«The Staircase»: anschauen, weil Wahrheit immer ein Thema ist, über das es sich lohnt nachzudenken.
Ab dem 22.07.2022 auf Sky+