Am 12. Juni 2013 verkündeten George Lucas und Steven Spielberg das Ende des Kinos. Die Erschaffer von «Star Wars», «Indiana Jones» und «E.T.» hatten zahlreiche Blockbuster verantwortet und damit dazu beigetragen, dass Hollywood in den 1970er-Jahren wieder in Schwung kam.
An diesem Tag aber sagten die beiden Vordenker einen radikalen Umbruch im Kinobetrieb voraus: Insgesamt weniger Filme, die in Kinos gezeigt werden. Eine Umgestaltung der Kinovorstellung hin zu einem Luxuserlebnis mit Ticketpreisen bis zu 150 Dollar.
Nebst der Annahme, dass neue Maschinen zur Projektion von Träumen lanciert würden, erwarteten sie aber vor allem eines: die Ablösung von Theater und Kino durch Video-on-Demand und Pay-TV.
Sie appellierten deshalb an einen Richtungswechsel der Filmindustrie. Denn die grosse Frage der Zukunft werde sein: «Do you want people to see it, or do you want people to see it on a big screen?»
Filmcoopi geht mit der Zeit
Diese Frage ist auch noch im Jahr 2021 aktuell. Im Februar hat das führende Schweizer Filmverleihunternehmen Filmcoopi die Plattform mit dem wegweisenden Namen filmlivestreaming.ch auf dem Schweizer Markt lanciert.
Das Angebot ist viel mehr als einfach eine Streaming-Plattform. Es handelt sich eher um eine Mischform aus Vorpremiere und Filmclub. Auf der Plattform finden virtuelle Gesprächsrunden mit den Filmschaffenden statt. Das Publikum kann über die integrierte Kommentarfunktion mitdiskutieren.
Zugegebenermassen geht Filmcoopi damit einen anderen Weg, als ihn Lucas und Spielberg aufzeigten. Allerdings stellt das Angebot im aktuellen Krisenkontext einen wichtigen Schritt dar: Es könnte für die Zeit nach der Corona-Pandemie sowohl kurzfristig als auch für längerfristige Umstrukturierungen wegweisend sein.
Deutliche Zeichen für einen Paradigmenwechsel
Wenn sich aber ein Verleiher wie Filmcoopi – dessen Katalog und Verleihstrategie zu den kohärentesten in der Schweiz gehören, der sich bei der Neugass Kino AG als Aktionär beteiligt und der auch Eigentümer der bekannten Kinos Riffraff und Houdini in Zürich oder des Bourbaki in Luzern ist – direkt zum Streaming übergeht, dann ist die Symbolwirkung nicht zu übersehen.
Und wenn man sich jetzt noch vor Augen führt, dass On-Demand-Abrufe vom Bundesamt für Kultur seit Kurzem wie Kinoeintritte behandelt und so für die Subvention Succès Cinéma berücksichtigt werden, wird klar: Wir erleben derzeit gerade einen Paradigmenwechsel.
Die Musikindustrie machte es vor
Im Gegenzug zur Filmindustrie hat die Digitalisierung in der Musikbranche bereits viel früher einen Systemwechsel angestossen. 1991, also drei Jahre bevor das Internet für die Öffentlichkeit zugänglich wurde, veröffentlichte der amerikanische Schriftsteller Brett Easton Ellis seinen Roman «American Psycho». Das Buch wurde zum Kultbestseller der Prä-Internet-Ära.
Die Hauptfigur Patrick Bateman, Investmentbanker und psychotischer Serienkiller, ist Popmusikfan, hasst aber Livemusik. Stattdessen setzt er auf Technologie, Kopfhörer, Walkman und Hightech im Wohnzimmer. Batemans Haltung wurde sofort zum Kult. Sie begeisterte Unzählige und brach mit einem grossen Tabu: die vermeintliche und sakrosankte Überlegenheit von Live-Aufführungen über ihre technische Reproduktion, wie es der Philosoph Walter Benjamin 1935 formulierte.
Nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung des Romans stand die Popmusik als einzige Kunstform vor einem kompletten Umbruch ihres Betriebsmodells.
Zunächst drohte die Gefahr der Internetpiraterie, dann aber stieg die Musikindustrie mit einem völlig neu durchdachten Geschäftsmodell wie ein Phönix aus der Asche und wurde zur treibenden Kraft für digitale Innovationen – Schluss mit der Hegemonie der Studios, Schluss mit der zentralen Position von Liveauftritten als Fundament für die Vermarktungsstrategie.
Live-Branche muss sich neu erfinden
Es begann mit iTunes und führte zu Spotify. Musikfans hatten endlich völlig legal Zugang zu fast allen Musikproduktionen – immer und überall, zum Preis eines einzigen Abos.
Um den Einbruch der Albumverkäufe auszugleichen, musste sich die Live-Branche in Anlehnung an Patrick Batemans elektronische Visionen neu erfinden – sie musste von einem Marketingelement zu einem eigenständigen Produkt mutieren. Und das alles noch, bevor soziale Netzwerke wie TikTok und Just Dance die Grenze zwischen Künstlerinnen und Zuschauern, Produzentinnen und Influencern, ja zwischen Konzertsaal und Wohnzimmer als smarte Tanzfläche noch mehr verwischt haben. Die von Lucas und Spielberg vorausgesagten Traummaschinen sind vielleicht gar nicht mehr so weit weg.
Wo bleibt der Wandel in der Kinobranche?
Das Beispiel Spotify zeigt auf, dass die Kinobranche und die audiovisuelle Industrie noch keinen so fundamentalen, vom Internet veranlassten Veränderungen durchgemacht haben wie die Musik.
Dafür gibt es mehere strukturelle Gründe: die Territorialisierung der Rechte und Finanzierung der Produktion. Die Systematisierung der Vertriebsfenster via staatliche Regulierungen. Ein Geschäftsmodell, das sich auf den Kinosaal konzentriert und somit Blockbuster nötig macht, um etwa die Marktstellung zu wahren.
Ausserdem denken viele Zuschauerinnen wie auch Fachleute noch immer: Einen Film auf einem Computerbildschirm zu schauen sei mit einem Kinobesuch ebenso wenig zu vergleichen wie Musikhören via Spotify mit einem Live-Konzert.
Netflix & Co. erzwingen Systemwechsel
Das Internet rüttelt jedoch gerade heftig am Fundament der Kinobranche. Beweis dafür ist der rasante Aufstieg der Streaming-Akteure Netflix, Disney+, Amazon Prime oder Apple TV+. Ebenso festigt der Erfolg der neuerlichen Experimente von Disney+ oder HBO Max in Sachen Medienchronologie die Stellung der Streaming-Plattformen an der Marktspitze.
Hinzu kommen die finanziellen Sorgen der Kinos sowie die kürzliche Aufhebung des Paramount-Urteils von 1948, das damals die Hollywood-Studios zwang, sich von ihren Kinoketten zu trennen: Dies bietet Netflix, Disney oder Amazon eine historsiche Chance, weitere Kinos zu erwerben und damit die gesamte Kette zu dominieren.
Das amerikanische Kinonetzwerk AMC etwa betreibt ungefähr 670 Kinos in den USA und ist regelmässig Gegenstand von Spekulationen hinsichtlich einer Übernahme durch Amazon.
Schliesslich kann man hinzufügen, dass der Einfluss, den Disney und vor allem Netflix auf die Verhandlungen über die Umsetzung der neuen EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste und ihres Schweizer Pendants haben, wonach die Plattformen europäische audiovisuelle Inhalte finanzieren müssen, einen Schlusspunkt hinter den Zusammenschluss der Internetakteure im Zentrum des Systems setzen.
Warum Netflix nicht zum neuen Spotify wird
Doch so revolutionär die neuerlichen Offensiven gegen die Vorherrschaft des Kinos scheinen: Plattformen wie Disney+, HBO Max oder Netflix sind und bleiben vor allem Produktionsstudios. Sie sind Produzenten, Herausgeber und Verleiher eines Angebots, das von den Leitprodukten Netflix und Disney Originals getragen wird.
Als Netflix in Europa auf den Markt kam, glaubte man, dass die Plattform das Äquivalent zu Spotify für Filme werden würde. Aber die Konzentration von Netflix auf Eigenproduktionen und die Lancierung von konkurrierenden Angeboten durch Disney, Fox, Universal und Warner hat dazu geführt, dass die beteiligten Akteure kein Interesse an einem solchen Zusammenschluss ihrer Angebote haben.
Grossleinwand nur noch als Luxuserlebnis?
Allerdings erfolgt dieser Zusammenschluss auf einer anderen Ebene und wird früher oder später zu einer vertikalen Integration führen, die wiederum eine Konsolidierung der Branche mit sich ziehen wird.
Philippe Täschler, CEO von Blue Cinema (ehemals Kitag), erklärte im Februar dieses Jahres im «Blick» seine Absicht: Er wolle «vermehrt Kino und Entertainment unter einem Dach kombinieren» sowie Kino mit der «Übertragung von alternativem Content und Eventreihen als Kombination von Film und weiteren Erlebnisformen» ergänzen.
Blue Cinema gehört zu Swisscom und ist somit in ein Unternehmen integriert, das die gesamte Kette audiovisueller Produkte abdeckt. Das zeigt heute schon auf, welche Form die aktuelle Transformation des Ökosystems annehmen und welche Auswirkungen sie auf so unterschiedliche Faktoren wie den Eintrittspreis, die Form der Kinovorstellung und die Dauer der Verwertung haben könnte.
Es sei denn, Kinospektakel auf Grossleinwand seien fortan nur noch an prestigeträchtigen Orten geplant. Zum Beispiel auf der Piazza Grande in Locarno oder an anderen Festivals, in Luxussälen, wie in der Westschweiz nach der geplanten Renovation des Capitole in Lausanne oder des Le Plaza in Genf. Das von der Hans Wilsdorf Stiftung aufgekaufte Le Plaza etwa soll zu einem Luxussaal mit bis zu 1000 Sitzplätzen umgestaltet und so zu einer Art Bayreuth für Kinofestivals werden.
Kinos müssen ihren Platz neu finden
Das Beispiel der Schweizer Plattform «Film Live Streaming» von Filmcoopi zeigt, dass sich die Lösungen nach Ansicht der Fachwelt nicht aus dem Kampf gegen die vermeintlichen Auswüchse der Digitalisierung herauskristallisieren werden.
Kinos müssen sich wie damals die Konzertveranstalter neu erfinden und ihren Platz in der digitalen Betriebskette ausloten: Werden sie sich darin einfügen können und ein zentrales Geschäftsmodell für Produzenten und Rechteinhaber bleiben? Oder werden Kinos in ein Marketing- und Prestige-Schaufenster für Werbung und Verwertung verwandelt? Dann wäre das Schicksal der Kinos nach der «Spotifyisierung» genau das Gegenteil von jenem der Livekonzerte.
Aber wie der Titel eines James-Bond-Films besagt, ist noch keine Zeit zum Sterben. «Old Hollywood» könnte sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen, mit einer Rückkehr zur vertikalen Integration, wie es sie seit dem Paramount-Urteil von 1948 nicht mehr gab. Denn so wären Veröffentlichungen von Disney oder Warner Originals in ihren eigenen Kinos – noch vor dem Streaming auf ihrer eigenen Plattform – nicht mehr ein Ding der Unmöglichkeit.
Und dann ist da noch Google …
Aber dieses Beinah-Happy-End ist möglicherweise nur von kurzer Dauer. Die Giganten des Internets, von Google bis Facebook, zeigen immer mehr Interesse an diesem Geschäft. Interessanterweise war Google in diesem Bereich bisher relativ diskret. Aber verschiedene Ankündigungen der letzten Monate deuten auf neue Ambitionen hin.
Mit YouTube besitzt das Unternehmen schon heute das grösste «Kino» auf Erden. Aber bis jetzt war Google nur mit dem Content anderer vertreten: keine Google Originals, keine eigenen Inhalte.
Der Anfang einer neuen Ära?
Google gab sich bisher damit zufrieden, es den Nutzern zu erlauben, mit seinem Chromecast-Stick konkurrierende Inhalte zu streamen. Die vor zwei Monaten angekündigte Umbenennung des Betriebssystems Android TV in Google TV könnte dies nun ändern.
In den USA gibt Google die Zusammenlegung von bis zu 25 Apps in einer einzigen nativen App an, von Netflix über Disney+ und Amazon Prime bis HBO Max.
Google TV ist direkt in Chromecast integriert und kann das Verhalten der Nutzer analysieren, um ihnen je nach Vorlieben weiteren Content vorzuschlagen. Google TV, das derzeit in TV-Geräten verschiedener Hersteller lanciert wird, könnte so den Anfang einer neuen Ära darstellen: der Super-Aggregierung von Content.
Am 18. Februar 2021 hat die Zeitschrift «Current Biology» bekannt gegeben, es sei Forschern gelungen, mit träumenden Personen in zwei Richtungen zu kommunizieren. George Lucas und Steven Spielberg können also getrost weiterträumen.