Dürfen wir zu Tisch bitten? Auf der Menükarte: ein kulinarischer Viergänger durch die jüngere Schweizer Geschichte. Denn was auf dem Teller landet, ist immer ein Abbild der Zeit. Während in den Kriegsjahren die Verfügbarkeit von Lebensmittel bestimmend war, blicken wir heute vermehrt ideologisch auf den Teller.
Wie haben sich die Ess- und Kochgewohnheiten der Schweizerinnen und Schweizer in den letzten 100 Jahren verändert? Welche Einflüsse prägten Ernährung, Produkte und Gerichte? Wir besuchen Zwei, die sich diesen Fragen mit Leidenschaft hingeben.
Dominik Flammer treffen wir in seiner Ernährungsbibliothek in Zürich. Er ist Initiator und Kurator des Culinarium Alpinum in Stans und Autor mehrerer Bücher, in denen er die Ernährungsgeschichte des Alpenraums erforscht. Flammer ist überzeugt: «Besser und vielfältiger als heute haben wir nie essen können.»
Susanne Vögeli betreibt in Aarau ihr Küchenlabor «Raum Acht», wo sie neue Rezepte erforscht und entwickelt. Daneben führt sie eines der bekanntesten Kochbücher der Schweiz in die Gegenwart: Das Kochbuch von Elisabeth Fülscher ist vor rund 100 Jahren das erste Mal erschienen und umfasst 1700 Rezepte. Vögeli sieht das Werk als Kulturgut: «Mir ist es wichtig, dieses Buch vor dem Untergang zu bewahren.»
Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg
Typisches Gericht: Birchermüesli
Die harte körperliche Arbeit in der Landwirtschaft prägte lange unsere Ernährung: Die Mahlzeiten in der Schweiz waren wenn möglich kalorienreich und bestanden aus deftigen Eintöpfen, Brot, Milchprodukten, Getreide und Hülsenfrüchten.
Anfang des 20. Jahrhunderts war die Bedeutung der Landwirtschaft bereits im Sinkflug. «Der Industrialisierungsschub führte zu einer massiven Verschiebung in der Ernährung», sagt Dominik Flammer.
Die markanteste Veränderung war die Zunahme des Fleischkonsums: «Die Sau war lange das teuerste Fleisch, wurde aber jetzt deutlich billiger als Rind», so Flammer. Gemüse und Salat waren lange nur Beigemüse, weil arm an Kalorien.
Nun kamen Schweizerinnen und Schweizer auf den Geschmack und erfreuten sich einer neuen Vielfalt: Tomaten, Auberginen, Zucchetti oder Mais wurden zu wichtigen Zutaten der Schweizer Küche. «Der gewerbliche Gemüseanbau ist also eine relativ neue Erscheinung», so Flammer.
Ein weiterer Jahrhundert-Trend nahm seinen Anfang: die «Aufspaltung der verschiedenen Diätformen», so Flammer.
Vegetarier, Veganer oder Rohköstler gab es schon immer, nun wurden sie sichtbarer. So setzte das Birchermüesli, erfunden vom Ernährungsreformer Maximilian Bircher-Benner, Anfang des 20. Jahrhunderts zu seinem Siegeszug an.
Auch bei Elisabeth Fülscher spielte die Rohkost in Notzeiten eine wichtige Rolle, weil die Zubereitung energiesparend, die Mahlzeit aber trotzdem sättigend ist. «Fülscher stand der Reformbewegung nahe und war befreundet mit Bircher-Benner», sagt die Ernährungsforscherin Susanne Vögeli.
Das Zeitgeschehen hat sich im Fülscher-Kochbuch immer gespiegelt – soziologisch, kulturgeschichtlich und politisch. So nahm Fülscher in der vierten Auflage 1940 das «Kochen in Kriegszeiten» auf mit Empfehlungen einer möglichst zweckmässigen Verwertung von Produkten oder Tipps für den Umgang mit Kochkisten.
Mit dieser Erfindung des 19. Jahrhunderts konnten Speisen energiesparend garen. «Fülscher hat einen guten Umgang mit dem Mangel gefunden. «Aus nichts etwas machen, lautete ihr Credo», sagt Vögeli.
Nachkriegszeit
Typisches Gericht: Büchsenravioli
Wirtschaftlich und gesellschaftlich setzte nach dem Krieg ein beispielloser Aufschwung ein. Der Kühlschrank und die boomende Lebensmittelindustrie eröffneten kulinarisch neue Möglichkeiten.
Frauen stiegen ins Berufsleben ein und der steigende Wohlstand heizte den Konsum an. «Eine enorm langanhaltende Hochkonjunktur führte dazu, dass Nachfrage und Angebot parallel wuchsen», so Flammer.
Die wichtigste Veränderung war die Italianisierung der Schweizer Küche, gepusht vor allem von der Migros. «Es entstand eine typische Schweizer Italianità mit Spagetti Bolognese oder Ravioli aus der Dose», sagt Flammer. Pizzerien schossen aus dem Boden. Was man heute unter italienischer Küche versteht, sei letztlich ein Marketingprodukt der Italo-Amerikaner.
Elisabeth Fülscher hat sich hingegen an der französischen, deutschen, österreichischen und spanischen Küche orientiert. «Die italienische Küche ist sehr schmal vorhanden, das hat mich erstaunt», sagt Susanne Vögeli. Ebenso wenig berücksichtigt hat Fülscher die ländlich geprägte Küche – etwa Älplermagronen.
Der Einfluss von Industrie und Marketing wuchs: 1956 drängte die fiktive Köchin Betty Bossi in Schweizer Küchen und die beiden Älplerspeisen Fondue und Raclette wurden zu international vermarkteten Käsegerichten. Die Kochkisten verschwanden, dafür startete die Ära des Dampfkochtopfs in Schweizer Haushalten.
Der Trend zu Fertiggerichten nahm seinen Anfang. Selbst Fülscher verschloss sich nicht vor Halbfertig-Produkten wie der Päckli-Suppe, Aromat oder Bouillonwürfeln. «Sie verachtete das nicht, aber zweifelte gleichzeitig an der Qualität», so Vögeli.
Fülscher habe den neuen Wohlstand und das Aufblühen der Wirtschaft sehr gefeiert, sie liess sich vom Geist der amerikanischen Küche und von der Fortschrittlichkeit inspirieren. «Opulente Platten mit Horsd'œuvres oder Cocktails zeugten davon.»
Die zunehmende Migration in der Schweiz trieb die Globalisierung des Essens voran – die spanische Küche (Paella) oder ungarische Gerichte (Gulasch) hielten Einzug.
Für Dominik Flammer war die Schweiz das «erste kulinarisch globalisierte Land der Welt». Was in der Tourismusindustrie begann, akzentuierte sich auch in Haushalten immer stärker.
1960er- bis 1980er-Jahre
Typisches Gericht: Riz Colonial
Das Fernweh packte Schweizerinnen und Schweizer. Der wachsende Wohlstand ermöglichte Reisen in exotische Länder. Das machte sich auch bei Fülscher bemerkbar: «Man findet sehr exotische Rezepte, aber nach heutigen Massstäben sind sie kurios gekocht», sagt Susanne Vögeli.
Etwa Tempura, ein frittiertes japanisches Fisch-Gemüsegericht, ein indisch inspiriertes Riz Colonial oder indonesisches Nasi Goreng. Riz Casimir oder der Bananen-Split wurden zu Rennern in Schweizer Küchen. Beide Gerichte sind nur vermeintlich exotisch: Sie wurden in der Schweiz erfunden.
Die internationale Küche in der Schweiz sei die Folge von Kriegen und Migration gewesen, so Flammer. In den 1970er-Jahren kamen China-Restaurants auf (betrieben meist von Vietnamesen), sowie die thailändische und indisch-tamilische Küche.
Etwas weniger ausgeprägt etablierten sich die mexikanische und japanische Küche. Auch neue exotische Früchte wie die Kiwi fanden den Weg zu uns und sind geblieben.
Die weitere Entwicklung erlebte Fülscher nicht mehr, sie starb 1970. Erst später begann der Aufstieg von Convenience Food und Tiefkühlprodukten, der in den 1980er-Jahren seinen Höhepunkt erreichte. Vor einer McDonaldisierung der Schweiz wurde gewarnt. «Man lebte und arbeitete nicht mehr am gleichen Ort und die Verpflegung ausser Haus nahm zu», sagt Susanne Vögeli.
Es blieb weniger Zeit zum Kochen, entsprechend haben sich die Produkte angepasst. «Die Arbeitswelt hat stark geprägt, wie wir leben und uns ernähren», sagt Vögeli. Das beobachtet auch Dominik Flammer: «Es gab insgesamt eine starke Diversifizierung innerhalb der Ernährungsgewohnheiten in kochende und nicht kochende Haushalte.»
Ein Produkt der 1980er-Jahre ist auch der «Tiptopf», das klassisch-nüchterne Kochbuch, das für den Hauswirtschaftsunterricht entwickelt wurde und bis heute in kaum einer WG-Küche fehlt.
1990er-Jahre bis heute
Typisches Gericht: Ceviche
Mit der Globalisierung nahm die Vielfalt der Küche weiter zu – Beispiele sind Sushi oder Ceviche. Peruanische, koreanische oder äthiopische Gerichte hielten Einzug.
Da mag die deutlichste Zunahme in der Neuzeit erstaunen: die «Verdeutschung der Küche», so Dominik Flammer, also Weizenbier, Brezen, Currywurst und Lebkuchen. «Als ich klein war, hat in der Schweiz kein Mensch Weizenbier getrunken, heute ist es jedes zweite Getränk.» Weitere Neuerungen waren die Einflüsse aus dem Balkan und der Türkei, später Libanon oder Israel. Shakshuka, Hummus oder Falafel gehören mittlerweile in jeden Supermarkt.
Parallel zur Multikulti-Küche nahmen die Bedeutung von regionalen Produkten und das Verlangen nach vertrauenswürdiger Kost zu. «Glokal ist das Schlagwort des 21. Jahrhunderts, die Küche wurde globaler und lokaler», sagt Flammer.
Der Bio-Boom und Fairtrade-Produkte nahmen in den 1990er-Jahren ihren Anfang. Vor allem bei Milch, Eiern und Frischgemüse wollen Schweizerinnen und Schweizer zunehmend wissen, woher die Produkte kommen. Beim Fleisch wurden sie wählerischer – weniger zuhause, mehr auswärts. «Man gönnt sich etwas, das gab es früher weniger», so Flammer.
Flammer sieht in der Tradition und in alten Produktionstechniken viel Innovationspotential, denn in einer globalisierten Schweiz werde plötzlich das Lokale exotisch. «Heute ist eine Felchenleber weitaus exotischer als Hummer, der jederzeit verfügbar ist.». Ebenso die alten Obstsorten – Flammer nennt den Thurgauer Rhabarbarapfel. «Ohne alte Sorten zu kennen, kann ich keine neuen züchten», ist er überzeugt.
Schweizer Käse erlebe eine Renaissance, so Flammer. «Vor 20 Jahren wurde in Restaurants eher französischer und italienischer Käse serviert, das ist vorbei.» Auch beim Brot oder Honig stellt er eine wachsende Qualität und Vielfalt fest.
Die jüngste Krise in Form der Pandemie hat das Kochen und den Trend zum Regionalen befeuert. Susanne Vögeli hat in der Corona-Zeit doppelt so viele Bücher von Fülscher verkauft wie in den Jahren zuvor. «Trotz orientalischem Trend erfreuen sich die Leute auch an bekannten, wohltuenden Rezepten wie Knöpfli oder einer Apfelwähe.»
Auch Vögeli findet in der Tradition Antworten für heute. Es ist ihr darum ein Anliegen, dass die bis zu 100 Jahre alten Rezepte von Fülscher nicht einfach neu herausgegeben, sondern angepasst und hinterfragt werden. 450 von 1700 Rezepten hat sie bereits überarbeitet – mit weniger Zucker, weniger Fett, kürzeren Kochzeiten und frischeren Produkten.
«Die Küche zurückerobern»: Das Credo von damals gelte noch heute. «Nicht im Sinne des Hausfrauenmodells, sondern einer modernen Gesellschaft, die sich gut ernähren will.»