«Hast du schon den neuen Platz gesehen?», fragt mich der Taxifahrer stolz, als wir im Dezember 2020 vom Flughafen in die Innenstadt rollen.
Die in Reih und Glied gepflanzten Palmen scheinen noch nicht ganz heimisch. Ein 90 Tonnen schwerer, pharaonischer Obelisk ragt in ein Tuch eingepackt aus der Mitte des Rondells. Vier Sphinxen, die den Obelisk symbolisch bewachen, sind in Holzkisten verpackt. Sie werden von Sicherheitsleuten bewacht.
Die Eröffnung des neu gestalteten Tahrir-Platzes wartet noch auf den richtigen Zeitpunkt, doch das schmälert die Begeisterung des Taxifahrers keineswegs. Auf dem Weg zum Platz fahren wir über neue Strassen, neue Brücken. Sie alle sind das Werk des jetzigen Präsidenten.
Geschichtsträchtiger Platz
Der Tahrir-Platz in der Innenstadt von Kairo blickt auf eine 150-jährige Geschichte. Sternförmig führen von allen Seiten Strassen hierher. Am Tahrir-Platz kommt die Welt zusammen: Hier stehen das Zentralverwaltungsgebäude Mogamma – ein von der Sowjetunion gebauter Koloss –, das Gebäude der Arabischen Liga, die ehemalige Amerikanische Universität, das Ägyptische Museum, Art-déco-Häuser, eine Moschee und ein Hotel.
Der Platz wurde einst nach dem osmanischen Vizekönig Ismail Pascha benannt. Nach dem Sturz der Monarchie und der Ausrufung Ägyptens als Republik 1954 wurde er zum Midan al-Tahrir – dem «Platz der Befreiung».
Hier findet die Geschichte des Landes statt. Der Platz wird permanent umgestaltet, das Rondell in seiner Mitte spiegelt die jeweilige Zeit. Am Tahrir-Platz lassen sich die Stimmung, die politische Lage, die Sorgen und Nöte der Stadt genau ablesen.
Der Platz des Arabischen Frühlings
Ab dem 25. Januar 2011 versammeln sich Kinder, Männer und Frauen, Arme und Reiche auf dem Platz, der unter den vielen Menschen ganz verschwindet. Das Rondell dient zeitweise als Zeltlager.
Hunderttausende organisieren sich über die sozialen Medien und kämpfen für die Absetzung des Langzeitpräsidenten Hosni Mubarak. 18 Tage später muss er zurücktreten. Die Armee übernimmt die Macht.
Das ganze Jahr hindurch herrscht auf dem Platz die freiheitliche Stimmung eines unbestimmten Neubeginns. Hoffnung, Aufbruch, der Duft der Freiheit mischen sich mit Entsetzen und Empörung.
Es gibt Momente, in denen die Stimmung plötzlich kippt. Es kommt zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Auf Mopeds werden tote und verletzte Demonstranten in die behelfsmässig eingerichteten Krankenstationen gefahren.
Es wird in dieser Zeit aber auch gefeiert, es finden Konzerte statt. Die ägyptische Musik verändert sich, statt Liebes-Schlager ertönen politische Songs. Viele ägyptische Musikerinnen und Musiker werden in diesen Tagen berühmt.
Der Platz der Mauern
2012 breitet sich Revolutionsmüdigkeit in der Bevölkerung aus. Die Taxifahrer – sie sind in Kairo die Stimmungsmesser – schimpfen über die schlechte, wirtschaftliche Situation und über das unübersichtliche Labyrinth von Mauern und Strassen. An allem seien die Demonstranten Schuld.
Ich spaziere über die Trottoirs am Rand des Platzes und betrachte die Auslagen der Strassenkioske. Es werden bunte T-Shirts mit Slogans der Revolution und ägyptischen Flaggen feilgeboten. Die Revolution ist zum Marketingprodukt geworden.
Einige der Zugangsstrassen sind durch hohe, aus Beton-Quadern gebaute Mauern versperrt. Sie sollen die Regierungsgebäude schützen und Aktivisten davon abhalten, sich auf dem Platz zu formieren. Noch herrscht kreative Freiheit: Die Mauern sind im Nu mit Graffitis verziert.
Im Frühling 2012 finden die ersten freien Präsidentschaftswahlen statt. Überall in der Stadt hängen Wahlplakate.
Doch die Auswahl ist ernüchternd: Die «Kinder der Revolution» schafften es nicht, sich zu formieren, und so stehen lediglich ein Vertreter des alten Regimes und einer der Muslimbrüder zur Wahl. Der Kandidat der Muslimbrüder, Mohammed Mursi, gewinnt in einer Stichwahl.
Der Platz des Chaos
Im Juni 2013 bin ich erneut in Kairo. Ich erkenne das Land mit den vielen bärtigen Männern fast nicht mehr wieder. So manifestieren sich hier die Ideen der Muslimbrüder. Es fehlt an allem: Lebensmittel, Strom, Wasser, Benzin. Vor den Tankstellen bilden sich kilometerlange Schlangen.
Die Polizei verweigert ihren Dienst und bleibt auf den Posten. Die Innenstadt verwandelt sich in einen grossen, chaotischen Kleider-Bazar, Verbrecherbanden machen die Strassen unsicher.
Auf dem Platz hält sich niemand mehr an Verkehrsregeln. Das Rondell ist unterdessen zu einer Brache verkommen: Braune, trockene Erde wartet auf eine Neugestaltung. Die Autos haben den Kreisverkehr aufgegeben, stehen kreuz und quer um das Rondell und blockieren sich gegenseitig. Es herrscht ein heilloses Durcheinander.
Ich versuche vergeblich, ein Taxi anzuhalten. Aus dem Nichts schnellt ein Moped an mir vorbei. Meine Handtasche, Pass und Geld sind weg. Der Aufenthalt in Ägypten wird zu einem Spiessrutenlauf zwischen Botschaft und Polizeiposten, auf dem niemand wirklich arbeiten will.
Der Platz und ein weiterer Neubeginn
2013 werde ich immer wieder von Aktivisten der Bewegung Tamarod (Aufstand) angesprochen, die einen schlecht kopierten Forderungskatalog zur Unterschrift unterbreiten.
Die Petition hat keine rechtliche Grundlage, sie kritisiert die Unsicherheit auf den Strassen und die Einmischung Amerikas, vor allem fordert sie aber die Amtsenthebung des Präsidenten Mursi. Millionen von Unterschriften werden gesammelt.
Die Bewegung Tamarod gipfelt in einer der grössten Demonstrationen auf dem «Platz der Befreiung»: Am 30. Juni 2013 steht das Volk auf, um sich von den Muslimbrüdern zu befreien. Wenige Tage später wird der Präsident durch eine Übergangsregierung ersetzt.
Von einem Tag auf den anderen gibt es wieder genug Lebensmittel, Strom, Wasser und Benzin. Die Bärte verschwinden wieder aus dem Strassenbild. Bald erhärtet sich der Verdacht, dass Tamarod von Militär und Sicherheitskräften instrumentalisiert wird und die Absetzung ein vom Militär inszenierter Putsch ist.
Der Platz der Märtyrer
Wieder gerät Ägypten in eine unruhige und angespannte Zeit mit Ausgangssperren, Verhaftungen, und dem opferreichen Massaker an Muslimbrüdern auf dem Rābiʿa-Platz in Kairo im August 2013. Die Muslimbrüder werden zur terroristischen Organisation deklariert und verfolgt.
Im November 2013 wird auf dem Rondell in der Mitte des «Platzes der Befreiung» der Grundstein für ein Memorial gelegt, das an die Märtyrer der Revolution erinnern soll. Aktivisten zerstören das Mahnmal. Dass jene, die die Märtyrer verursacht haben, nun einen Stein für sie errichten, ist zu viel Zynismus.
Kurz darauf erlässt der Übergangspräsident ein strenges Demonstrationsgesetz, das einem Versammlungsverbot gleichkommt. Auf dem «Platz der Befreiung» wird es ruhig.
Der Platz als Spiegel patriotischer Gefühle
Unterdessen wird der Militärkommandant Abdel Fattah al-Sisi zum Retter der Nation hochstilisiert. Er geniesst grosse Beliebtheit und sieht sich vom Volk getrieben, bei den Wahlen als Präsidentschaftskandidat anzutreten. Im Juni 2014 wird er als Präsident vereidigt.
In der Mitte des Rondells des Tahrir-Platzes weht eine überdimensionierte Flagge Ägyptens. Sie soll die patriotischen Gefühle der Ägypter befeuern.
Die neue Regierung macht mit Megaprojekten wie dem Bau des neuen Suez-Kanals und einer neuen Hauptstadt von sich reden. Positive Schlagzeilen sollen auch die regelmässigen Berichterstattungen über grossartige pharaonische Funde machen.
Inmitten dieser Superlative geht das Volk vergessen. Die Menschen werden zusehends ärmer und unzufriedener. Gleichzeitig richtet sich der Staat gnadenlos gegen Andersdenkende: Sich offen zu äussern ist untersagt, Auftritte werden zensuriert oder abgesagt. Viele ehemalige Aktivistinnen und Aktivisten versinken in Perspektivlosigkeit.
Der Platz der Angst
Ein Klima der Angst macht sich breit. Hausdurchsuchungen und Festnahmen gehören zum Alltag, in der Innenstadt markieren Polizei und Armee Präsenz. Gleichzeitig werden immer mehr Berichte über sexuelle Belästigungen öffentlich, bald wird die #MeToo-Bewegung auch Ägypten erreichen.
2016 fahre ich spätnachts nach einem Besuch bei einem Kultur-Aktivisten mit der Metro zurück zum «Platz der Befreiung». Als einzige Frau werde ich die ganze Fahrt hindurch von einer Gruppe von Männern beobachtet. Ich bekomme es mit der Angst zu tun.
Ich erreiche die Metro-Station des Tahrir-Platzes und erwische in der unübersichtlichen Tunnelwelt unter dem Platz einen falschen Ausgang. Leicht panisch finde ich mich vor dem riesigen, in Dunkelheit gehüllten Verwaltungsgebäude Mogamma wieder, das bedrohlich über den leeren Platz blickt. Obwohl ich nur rund 500 Meter auf die andere Seite gelangen muss, steige ich in ein Taxi.
Der Platz der Versammlungen wird virtuell
Noch immer verbietet das Notstandsgesetz Versammlungen. Längst haben die sozialen Medien ihre Funktion für die Organisation von realen Treffen verloren, sie sind zum virtuellen «Platz der Befreiung» geworden. Millionen sind täglich auf dem Netz und tauschen sich über Trends und Musik aus und decken Ungerechtigkeiten auf.
Die sozialen Medien dienen längst auch dem Staat zur Überwachung. 2019 wird daher durch Mundpropaganda zu Demonstrationen aufgerufen. Nur wenige mutige Junge folgen dem Ruf und versammeln sich in Aussenquartieren, wo sie von Sicherheitskräften sofort wieder vertrieben werden.
Vor allem junge Männer werden nun auf dem «Platz der Befreiung» und den umliegenden Strassen der Innenstadt von der Polizei aufgefordert, auf ihren Handys ihre Facebook-Seiten zu zeigen. Wer sich weigert, wird mitgenommen, wer kritische Posts schreibt oder weiterleitet, wird verhaftet.
Der Platz im Griff der Pandemie
Im Frühling 2020 lässt der Lockdown den Himmel über Kairo in klarem Blau erstrahlen. Die wochenlange Ausgangssperre hüllt die Millionenstadt nachts in noch nie dagewesene Ruhe.
Wegen Dreharbeiten erhalte ich eine Ausnahmebewilligung und fahre eines Nachts spät aus einer der Wüstenstädte ausserhalb von Kairo zurück nach Hause. Wir rasen über gespenstisch leere Highways. Um den «Platz der Befreiung» überqueren zu können, werden unsere Papiere an mehreren Checkpoints von freundlichen Polizisten kontrolliert. Die minutiösen Kontrollen zeigen, wie gut der Staat organisiert ist.
Der Platz der Superlative
Im Land mit geschätzten 110 Millionen Einwohnern, durch das der weltweit längste Fluss fliesst und das auf eine jahrtausendealte reiche Geschichte zurückblickt, geht es oft um Superlative.
Im Januar 2021 warten die vier Sphinxen auf dem Rondell eoch immer auf ihre Befreiung. Nur eine Probe des aufwendigen Lichtkonzepts gibt einen kurzen Vorgeschmack, danach wurden die Statuen wieder verpackt. Wann die Eröffnung des Platzes stattfindet, weiss niemand.
Auf der gegenüberliegenden Seite wird eine andere, pompöse Prozession vorbereitet. Mit pharaonischen Symbolen verzierte, prunkvolle Fahrzeuge sollen Königsmumien aus dem Ägyptischen Museum über den Tahrir-Platz transportieren. Das Museum hat eine derart grosse Sammlung von altägyptischer Kunst, dass damit zwei weitere Museen bestückt werden können. Die Pharaonen haben den «Platz der Befreiung» symbolisch übernommen.