18 Tage lang habe er praktisch auf dem Tahrir-Platz gelebt, sagt Alaa al-Aswani. Seine Praxis habe der Schriftsteller, Zahnarzt und Revolutionär im Januar 2011 genutzt, um Konferenzen für die internationale Presse durchzuführen.
Nun hat al-Aswani seine Erfahrungen während des Arabischen Frühlings im Roman «Die Republik der Träumer» verarbeitet. «Ich habe die Revolution und die Menschen, die daran beteiligt waren, selbst erlebt. So ist auch der Roman von realen Personen inspiriert», sagt er in einem Interview mit dem Hanser-Verlag.
Al-Aswanis Revolutionsroman, der in der Originalsprache den sehr viel weniger romantischen Titel «Die sogenannte Revolution» trägt, ist ein detailliert gezeichnetes Sittengemälde der ägyptischen Gesellschaft.
Junge Revolutionäre
Wir lernen die junge Generation der Revolutionäre kennen. Der politisch hellwache Ingenieur Mazen etwa versucht, in seiner Zementfabrik den Widerstand der Arbeiter gegen Korruption zu organisieren. Die Englischlehrerin Asma weigert sich, den Hidschab zu tragen und widersetzt sich ihren Vorgesetzten.
Dania, die Tochter eines streng gläubigen Generals, schliesst sich den Revolutionären an, die ihr Vater foltern lässt. Ihr Kommilitone Chaled hatte sie zum Nachdenken gebracht – mit Sätzen wie: «Eine Moral ohne Religion ist besser als eine Religion ohne Moral.» Ausgerechnet der sanftmütige Chaled wird zu den Opfern der Revolution gehören.
Die Seite der Unterdrücker
Ebenso farbig schildert Alaa al-Aswani die Unterdrücker, Manipulateure und Opportunisten, an denen die Revolution scheitern wird. Durch berechnende Heiraten sichert sich die schöne Fernsehmoderatorin Nurhan den Zugang zur Medienmacht. Sie hilft tatkräftig bei der medialen Inszenierung der Lüge, dass die Revolution von ausländischen Mächten gesteuert sei.
Der von vielen als religiöse Autorität verehrte Scheich Shamil wiederum lässt sich von den Saudis dafür bezahlen, dass er die Gläubigen mit dem Wahhabismus indokriniert.
Die Revolution aus verschiedenen Blickwinkeln
Auf 450 Seiten zeigt Alaa al-Aswani mit diesen Porträts das komplexe Geflecht einer Gesellschaft, die auf Manipulation und Verrat gegründet ist. Er nutzt dazu verschiedene Perspektiven und Textsorten: So lassen Mazen und Asma uns in E-Mails an ihren intimsten Gedanken teilhaben.
Die Gewalt auf dem Tahrir-Platz erleben wir in den Zeugenaussagen vor Gericht aus nächster Nähe mit. Wir werden in Gefängnisse versetzt, wo die Gefangenen gefoltert und Frauen wie Asma mit entwürdigenden Jungfräulichkeitstests gebrochen werden.
Prüderie und Porno
In seinem Roman bricht Alaa al-Aswani alle Tabus des arabischen Kulturkreises, denn er kritisiert nicht nur Politik und Religion, sondern liefert überdies detaillierte und leidenschaftliche Sexszenen.
Diese nicht immer kitschfreien Liebesgeschichten dienen als Gegengewicht zur politischen Dramatik. Andererseits nutzt al-Aswani sie, um seine Figuren zu entlarven, oft mit beissender Ironie: Die fromme Nurhan befriedigt ihren potenzschwachen dritten Ehemann mit Sexualtechniken, die sie sich selbst mit Ratgebern beibringt. Und der gottesfürchtige General Alwani verschafft sich mit Pornofilmen eine Erektion für die Erfüllung seiner ehelichen Pflichten.
Das Buch macht uns zu Zeugen der Revolution
Geradezu mustergültig führt uns al-Aswani die Diskurse, Haltungen und Schicksale vor und liefert damit ein umfassendes Bild der ägyptischen Revolution.
Mit all dem faktischen Wissen, das er uns vermittelt, hätte dieser Roman auch ein Sachbuch werden können. Literarisch ist das eine Schwäche des Buches: Weil jede Figur ihre Rolle erfüllt, weiss man genau, was man von ihnen zu halten hat.
Diese Nähe zur Trivialliteratur ändert jedoch nichts daran, dass der Roman etwas leistet, das einem Sachbuch verwehrt bleibt: Wir werden Zeuge der Ereignisse und haben teil an der euphorischen wie tragischen Erfahrung der Revolution.
Verhalten optimistische Blicke in die Zukunft
Letztlich scheitert die Revolution nicht an den Machthabern, sondern am Volk, das ist die bittere Erkenntnis. Im Gegensatz zu Mazen, der seinen Idealen treu bleibt, emigriert Asma nach London: «Diese Menschen verdienen mein Opfer nicht», schreibt sie ihm in einer E-Mail.
Auch der Autor selbst lebt inzwischen im Exil: Seit dem Amtsantritt von al-Sisi hat Alaa al-Aswani in seiner Heimat Publikationsverbot, sein Roman über die Revolution konnte nur im Libanon erscheinen. Dennoch bleibt er optimistisch. In seinem Interview mit dem Verlag bekennt er sich zum «realistischen Optimismus», den er seiner Figur Mazen mitgegeben hat: «Die Revolution kann zwar verschoben, aber nicht verhindert werden.»
Im Roman gibt es eine Aussage, die wie ein Leitmotiv immer wiederkehrt: «Jeder, der an der Revolution teilnimmt, ist für immer verändert.» Das ist die Erfahrung, die Alaa al-Aswani mit seinem Roman lebendig halten will.