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Das Wichtigste in Kürze
- In der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober 1917 ergreifen die kommunistischen Bolschewiki unter der Führung von Lenin die Macht in Russland.
- Lenin bietet sich in jener Nacht die einmalige Chance, als Einzelperson den weiteren Verlauf der Geschichte zu bestimmen.
- Lenins Machtstreben und sein ideologischer Fanatismus hindern ihn daran, auf gemässigte Kräfte zu hören.
- Er errichtet einen diktatorischen Staatsapparat – und legt damit den Grundstein für die grausame Herrschaft von Josef Stalin ab 1927.
Es ist der 25. Oktober 1917 nach russischer Zeitrechnung. Der westliche Kalender zeigt den 7. November.
In St. Petersburg – oder besser in Petrograd, wie die russische Hauptstadt damals in antideutschem Geist heisst – bringen revolutionäre kommunistische Kräfte strategische Orte in ihre Gewalt: Zufahrtsstrassen, Bahnhöfe sowie wichtige Brücken über die Newa, etwa die Litejnyj-Brücke.
Der Sturm des Palasts
Vorerst unbesetzt bleibt der Winterpalast. Dort ist der Sitz der sogenannten Provisorischen Regierung. Sie ist bürgerlich-liberal ausgerichtet und führt das Land seit der Februarrevolution desselben Jahres. Damals wurde in einem Volksaufstand das Jahrhunderte alte autokratische Zarensystem gestürzt.
Nun soll auch die Provisorische Regierung fallen. Sie hat es nicht geschafft, das Land zu stabilisieren und liberale, demokratische Verhältnisse durchzusetzen.
Am späten Abend des 25. Oktobers 1917 ist es soweit: Der Sturm auf den Winterpalast beginnt. Die Roten Garden, die bewaffneten Revolutionäre, dringen in kleinen Gruppen über mehrere Eingänge gewaltsam in den Palast ein. Um 2.10 Uhr ist er in der Hand der Revolutionäre. Die Provisorische Regierung ist entmachtet.
Idealisierte Geschichte
Entgegen späteren Darstellungen erfolgt der Regimewechsel nicht durch Volksmassen, die dem angeblich «imperialistischen Regime» die Macht entreissen. Der Machtwechsel ist vielmehr ein simpler Staatsstreich. Die Petersburger Öffentlichkeit nimmt zunächst kaum Notiz davon.
Was ebenso ins Reich der Legenden gehört: Das Kriegsschiff «Aurora» – heute ein Museumsschiff – habe mit einem fulminanten Blindschuss das Signal zum Sturm auf den Winterpalast gegeben. Tatsächlich feuert bereits vor der «Aurora» ein Geschütz einen Blindschuss aus der Peter-Paul-Festung, die gegenüber des Winterpalasts steht.
Unbemerkte Zeitenwende
Wie unspektakulär die Ereignisse tatsächlich sind, schildert der amerikanische Journalist und überzeugte Sozialist John Reed. Er weilt damals in St. Petersburg. In seinem Augenzeugenbericht «Zehn Tage, die die Welt erschütterten» schildert er das Geschehen rund um den Winterpalast.
Reed notiert: «Strassenbahnen fuhren hier nicht, man sah kaum einen Fussgänger, die Laternen waren gelöscht. Ein paar Strassen weiter jedoch ging das Leben seinen gewohnten Gang: überfüllte Strassenbahnen, auf und nieder wogende Menschenmassen, erleuchtete Schaufenster, die Reklamezeichen der Lichtspieltheater. (…) Alle Theater waren geöffnet.»
Kaum jemandem ist an jenem Abend – und auch in den folgenden Tagen – bewusst, dass die Einnahme des Winterpalasts eine historische Zeitenwende markiert: Die Bolschewiki unter Wladimir Iljitsch Lenin legen den Grundstein für das erste kommunistische Land der Erde.
Damit beginnt ein bis dahin einzigartiges soziales und politisches Experiment – mit unsäglichen Folgen für Millionen Menschen.
Keine zwingende Entwicklung
Rückblickend hätte es nicht so kommen müssen. Lenin bietet sich nach der Machtergreifung nämlich die Chance, als Einzelperson den Gang der Dinge so oder anders zu gestalten.
Dies ist historisch gesehen eine Ausnahmesituation: Politiker oder Politikerinnen haben nur selten die Möglichkeit, massgeblich in die Geschichte einzugreifen. Sachzwänge wie die soziale Lage, die ökonomische Struktur oder die politischen Kräfteverhältnisse setzen dem Willen Einzelner normalerweise Grenzen.
Nach dem Sturm des Winterpalasts in der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober 1917 ist dies für einmal anders. Zwar ist die liberal-demokratische Regierung gestürzt. Aber es ist überhaupt nicht klar, wohin die Reise nun gehen wird.
Zerstrittene Linke
Die siegreiche russische Linke ist in sich völlig uneins. Zwar wollen alle den Sozialismus. Aber die konkreten Vorstellungen darüber gehen weit auseinander.
Am radikalsten sind Lenins Bolschewiki: Sie erkennen in der Februarrevolution lediglich eine Zwischenstufe zu ihrem eigentlichen revolutionären Ziel. Nun scheint es in Griffweite: die sofortige Einführung des Kommunismus.
Daneben gibt es starke gemässigte Kräfte: Sozialrevolutionäre, die eine grundlegende Bodenreform und eine rasche Industrialisierung fordern. Und Menschewiki, die – ähnlich wie die Mehrheit der Linken in Westeuropa – auf politische und soziale Reformen setzen. Auf diese Weise soll die Lage der unteren Schichten schrittweise verbessert werden.
Die Nacht der Entscheidung
Tatsächlich entbrennt innerhalb der Linken in jener Nacht des Sturms auf den Winterpalast ein heftiger Streit ob des künftigen Kurses. Sozialisten aus ganz Russland haben sich im Smolny-Institut, fünf Kilometer vom Winterpalast entfernt, zu einem «Allrussischen Kongress der Sowjets» zusammengefunden.
Das Smolny-Institut wurde im 18. Jahrhundert ursprünglich als Kloster konzipiert und dient den Revolutionären nun als Hauptquartier. Im sogenannten Ballsaal, einem prunkvoll ausgestatteten Salon, gehen die Wogen hoch.
Lenin will Russland erlösen
Lenin selbst versteckt sich in jener Nacht der Entscheidung zunächst in einer unscheinbaren Wohnung im Norden von St. Petersburg. Er ist von der Provisorischen Regierung zur Fahndung ausgeschrieben.
Erst spät am Abend gelingt es ihm, sich zum Smolny-Institut durchzuschlagen. Wäre er damals von den Regierungskräften aufgegriffen worden, hätte die Geschichte ziemlich sicher eine andere Wendung genommen.
Während des «Allrussischen Kongresses der Sowjets», zu dem sich Lenin verspätet hinzugesellt, fordern die Gemässigten Kompromisse: eine sozialistische Koalitionsregierung etwa oder einen demokratischen Rätestaat. Wäre vielleicht sogar ein Ausgleich mit den gestürzten Liberalen denkbar?
Lenin jedoch ist dazu nicht bereit. Er erkennt die einmalige Gelegenheit, in jener Nacht den Kommunismus auszurufen – und sich gleichzeitig selbst an die Staatsspitze zu bringen.
Damit geht für Lenin ein Traum in Erfüllung, für den er über Jahre mit eiserner Selbstdisziplin gearbeitet hat. Er fühlt sich dazu berufen, Russland durch die Revolution zu erlösen.
Unrechtssystem soll sich nicht fortsetzen
Diese Egomanie hat unterschiedliche Ursachen: Lenin hasst die Provisorische Regierung ebenso, wie er den Zaren gehasst hat. Dieser hat seinen Bruder als Aufwiegler hinrichten lassen und Lenin selbst für Jahre ins Exil getrieben.
Das liberal-demokratische System ab der Februarrevolution stellt für den Revolutionär lediglich eine Fortsetzung des zaristischen Unrechtssystems dar. Deshalb darf es nicht weiterexistieren.
Der Wille zur Macht
Hinzu kommt Lenins ideologischer Fanatismus. Er ist davon überzeugt, dass der Beginn der kommunistischen Weltrevolution im wirtschaftlich rückständigen Russland stattfinden müsse: Es stelle das «schwächste Glied in der Kette der kapitalistischen Länder» dar.
Und Lenin will in jener Nacht vor allem eines: Er will die Macht um der Macht willen. Deshalb lässt er sich die Gelegenheit zur Alleinherrschaft nicht entgehen.
Wie ernst ihm damit war, wird er später immer wieder beweisen. Er kennt niemals irgendwelche Skrupel, wenn es darum geht, die Macht zu verteidigen. Selbst vor der Anwendung brutalster Mittel schreckt er nicht zurück.
Die Wahl der Diktatur
Während des «Allrussischen Kongresses der Sowjets» im Smolny-Institut geben Lenins Bolschewiki den Gegnern aus dem gemässigten Lager denn auch kein Jota nach. Im stickigen und verrauchten Saal jagen sich die Gehässigkeiten.
Schliesslich begehen die Kritiker Lenins jenen Fehler, den sie nie hätten begehen sollen: Sie verlassen aus Protest über das Gebaren der Bolschewiki den Saal. Der Lenin-Intimus Leo Trotzki ruft ihnen höhnisch hinterher, sie sollten sich dorthin scheren, wo sie hingehörten: «auf den Kehrichthaufen der Geschichte».
Tatsächlich ist die Opposition innerhalb der Linken erledigt und hat fortan keinerlei Einfluss mehr. Für Lenin aber ist der Weg frei, die Macht in der kommunistischen Partei und im Staat zu übernehmen. Er lässt sich nicht zweimal bitten. Der Erhalt der Macht steht fortan im Zentrum seines Tuns – bis zu seinem Tod 1924.
Die Massen gewinnen
Unmittelbar nach der Machtergreifung versteht es Lenin, mit Populismus und Demagogie die Volksmassen zu gewinnen. Von zentraler Bedeutung ist der Friedensschluss mit dem Deutschen Reich, den sich die kriegsmüde Bevölkerung ersehnt.
Lenin erkauft ihn sich, indem er dem Kriegsgegner im Frieden von Brest-Litowsk gigantische Ländereien abtritt. Sie reichen von der Ukraine bis zum Baltikum. Fast ein Drittel der damaligen Bevölkerung Russlands lebt dort.
Enteignung von Landbesitzern
Lenin tröstet sein Volk – und sich selbst – über den Schmachfrieden hinweg: Er behauptet, die kommunistische Weltrevolution stünde bevor. Landesgrenzen seien dann ohnehin obsolet.
Ähnlich populär wie der Friedensschluss ist die von Lenin verordnete Enteignung der Landbesitzer. Das Land soll zum «Allgemeingut aller, die darauf arbeiten» werden. Faktisch bedeutet dies die rücksichtslose Verstaatlichung von Millionen Hektaren Grund und Boden.
Die Errichtung der Diktatur
So verschafft sich die neue bolschewistische Führung mit einigem Erfolg den Rückhalt in der breiten Bevölkerung. Im Schatten dieser Massnahmen errichtet Lenin jedoch einen zentralistischen, scheindemokratischen und diktatorischen Staatsapparat.
Das enorme menschliche Leid, das er dabei verursacht, kümmert ihn nicht. Auch nicht, dass er mit seinem Tun den Samen legt für jenes Grauen, das später unter Stalin so furchtbare Blüten treiben wird – und zu einem der dunkelsten Kapitel der neueren Geschichte überhaupt führt.
Die Logik der Macht
Lenin hätte im Oktober 1917 die historische Chance gehabt, Russland auf einen gemässigteren und empfehlenswerteren Kurs zu schicken. Es gibt damals genügend gewichtige Stimmen, die ihm dies nahelegen.
Dass er die Chance nicht packt, geschieht nicht aufgrund irgendwelcher Zwänge, sondern weil er dies nicht will. Lenin zieht es 1917 vor, der Logik der Macht um jeden Preis zu folgen.