Meine Schwester durfte ein Jahr früher in die Schule als ich. Sie brachte Kärtchen nach Hause, auf denen kurze Sätze standen. Ich nahm ein Kärtchen in die Hand, fuhr mit meinen Fingern darüber. Nichts. Ich rieb und drückte. Nichts. Glattes Papier. Verzweifelt lief ich zu meiner Mutter und klagte ihr mein Leid: «Ich will auch lesen, Mama!»
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Bild 1 von 3. Braille im Alltag: Als eines der ersten Postunternehmen der Welt gibt die Schweizerische Post 2003 eine Briefmarke mit Brailleschrift heraus. Bildquelle: Keystone/Dorothea Mueller.
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Bild 2 von 3. Auch die SBB setzt auf Braille: Bahnsteig-Informationen an einem Bahnhofsgeländer. Bildquelle: imago images/Dreamstime.
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Bild 3 von 3. Braille-Markierungen in einem Lift, wie hier im Blindenheim in Basel, sind sicher vielen bekannt. Bildquelle: Keystone/Georgios Kefalas.
«Du wirst lesen. Nächstes Jahr. Deine Schrift ist aus Punkten gemacht, die du mit deinen Fingeraugen lesen kannst. Deine Schwester liest die Schwarzschrift, die für die Augenmenschen gemacht ist», erklärte meine Mutter geduldig.
Endlich auch lesen!
Doch ich wollte nicht warten. So kaufte mir meine Mutter Magnetbuchstaben, wie man sie an Kühlschränke klebt, und lehrte mich das Alphabet. Mit meinen Kinderfingern, die im Tasten bereits geübt waren, glitt ich den Umrissen der Buchstaben entlang. Stolz schrieb ich Wörter auf die Magnettafel.
Und dann war es so weit: Die sechs Punkte der Brailleschrift traten in mein Leben. Die Grundform der Schrift sieht aus wie die sechs auf dem Spielwürfel. Zweimal drei Punkte. Drei links, drei rechts. Aus diesen Punkten lassen sich 63 Kombinationen ableiten. Die Zeichen haben genau unter einer Fingerbeere, also der Innenseite der Fingerspitze, Platz.
Der Weg zur Punktschrift
Auch Louis Braille liebte das Lernen. Mit fünf Jahren hatte er sein Augenlicht nach einem Unfall mit einem spitzigen Lederwerkzeug seines Vaters verloren. Braille war noch ein Kind, als er begann, seine Punktschrift zu ersinnen. Zuerst hatte aber auch er Bekanntschaft mit geprägten Druckbuchstaben gemacht.
Als er 1819 ins Institut für junge Blinde in Paris eintrat – die erste Blindenschule überhaupt – lernten blinde Kinder, Druckbuchstaben zu entziffern, die in dickes Papier geprägt waren. Die Buchstaben waren schwer zu lesen, und die Bücher in Prägedruck brauchten enorm viel Platz.
Braille lernte auch Schwarzschrift schreiben, damit seine sehenden Lehrkräfte lesen konnten, was er schrieb. Die Pädagogen waren der Ansicht, blinde Kinder müssten die gleiche Schrift benützen wie die Sehenden.
Im Institut für junge Blinde sog er alles auf, was geboten wurde. Der Alltag war hart, die Kinder mussten neben dem Unterricht auch arbeiten und musizieren. Das Lernen war erschwert, weil es nur sehr wenige Bücher und keine Musiknoten gab.
Eine Geheimschrift liefert die Idee
Schicksalhaft war der Tag, an dem Louis Braille die sogenannte Nachtschrift kennenlernte, die der Offizier Charles Barbier fürs Militär entwickelt hatte. Soldaten sollten damit ohne Licht Botschaften übermitteln können. Das Militär zeigte kein Interesse, deshalb stellte Charles Barbier seine Nachtschrift im Blindeninstitut vor.
Die Lautschrift bestand aus zwölf Punkten. Louis Braille war fasziniert. Er begriff, dass Punkte die Lösung waren, um eine gut lesbare Schrift für die Hände zu entwickeln. Denn: Ein Punkt erschliesst sich den Tastnerven sofort. In eine Richtung darüber zu gleiten, genügt.
Doch die Nachtschrift war viel zu kompliziert. Also begann der junge Braille zu tüfteln und seine Fortschritte mit seinen Mitschülern zu diskutieren. Er wurde von einem Teil des Unterrichts befreit und nutzte jede freie Minute.
Die geniale Erfindung
1825 stellte Braille – gerade 16 Jahre alt – seine Punktschrift vor, nur drei Jahre später stellte er auch eine Musikschrift vor. Die Zeichen seiner Schriften bestanden aus sechs Punkten. Die Zeichen passten genau unter eine Fingerbeere. Die Brailleschrift ist logisch aufgebaut, die Zeichen sind einfach zu erlernen. Doch Tasten ist eine Kunst: Wer schnell lesen will, muss üben. Viel üben.
Um 1850 gab es verschiedene tastbare Schriftsysteme. Erst nach jahrzehntelangem Ringen setzte sich die Brailleschrift durch. Sie bestach durch ihre Einfachheit und liess sich am leichtesten lesen. Louis Braille erlebte den Durchbruch seiner genialen Erfindung nicht mehr. 1852 starb er mit 43 Jahren an Tuberkulose.
Die Welt wird gross – dank Braille
Mir öffneten die sechs Punkte Welten. Ich konnte lesen, wie die Welt aussieht, konnte in Geschichten eintauchen und Reisen machen. Wenn ich las, spürte ich mein Blindsein nicht. In Gedanken und Fantasie war ich frei.
Meine Schwestern lernten die Punktschrift, sie lasen sie mit den Augen. Ich übte fleissig, Druckbuchstaben zu zeichnen und las alle Braillebücher, die ich in die Finger bekam. Es gab nur wenige Kinderbücher, die ich in der Schulbibliothek ausleihen konnte. Das nervte, doch ich liess mich davon nicht abhalten, stundenlang ungeheissen zu üben und auch Bücher für Erwachsene zu verschlingen.
Konkurrenz für Braille
Diesen Text über die Brailleschrift schreibe ich am Computer. Auf meiner Braillezeile kann ich nachlesen, was ich geschrieben habe, und kann die Fehler korrigieren. Alle Texte, die elektronisch erfasst sind, lassen sich in Braille darstellen. Ich kann auch Bücher einscannen, Bibliotheken haben heute grössere Bestände an Braillebüchern als früher.
Die Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte in Zürich überträgt sogar Wunschtitel von Nutzenden in Braille. Trotz dieses Quantensprungs hat Braille einen schweren Stand. Heute gibt es Sprachausgaben und Hörbücher. Hören fällt sehbehinderten Menschen leicht. Das verleitet dazu, dem anstrengenden Weg des Tastens auszuweichen.
Zum Lesen müssen wir uns hinsetzen und üben. Denn die Augen fallen nicht überall auf Schrift wie bei Sehenden. Dazu kommt: Menschen mit kleinem Sehrest tun sich oft schwer mit Braille. Ihre Hände könnten ihre Augen elegant entlasten. Doch sie wollen sich nicht blind fühlen und machen deshalb alles mit den Augen, auch wenn es noch so anstrengt.
Tasten braucht für alle viel Geduld und Mut. Ich mache mich verletzlich, wenn ich mit offenen Händen auf die Welt zugehe. Und ich falle auf.
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Bild 1 von 3. Technische Hilfsmittel: Moderne Braille-Schreibmaschinen erlauben es, Informationen unkompliziert auf Papier zu prägen. Bildquelle: imago images/YAY Images.
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Bild 2 von 3. Bereits Louis Braille beschäftigte sich mit Maschinen zur Anwendung seiner Blindenschrift. (um 1830). Bildquelle: Getty Images/Keystone-France .
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Bild 3 von 3. Dass der Prozess des Prägens nicht immer einfach war, zeigt die händische Erstellung einer Blindenzeitung 1941 in der Schweiz. Bildquelle: Keystone/PHOTOPRESS-ARCHIV/Str.
Besonders wichtig ist Braille in der Arbeitswelt. Blinde Menschen, die sich ausschliesslich auf ihr Gehör verlassen, können viel erreichen. Doch eigentlich können sie nicht lesen, das bringt im Berufsalltag Nachteile. Ich kann meine Arbeit beim Radio nur dank der Brailleschrift ausüben.
Meine Sendungen und Interviewfragen lese ich mit den Fingeraugen. Die Punktschrift entlastet auch mein Gehör, das mir die Augen ersetzen muss. Meine Ohren brauchen Ruhepausen, sonst riskiere ich, einen Hörsturz zu erleiden, was leider vielen blinden Menschen zustösst.
Mich durchströmt bis heute jedes Mal schieres Glück, wenn ich ein Braillebuch im Arm halte und mit den Fingern über die Zeilen gleite. Ich bin Louis Braille und Charles Barbier für ihre Pionierarbeit unendlich dankbar. Denn dank ihnen kann ich blind lesen.