Ein blinder Mann steht vor dem Buckingham-Palast und lässt sich vom Smartphone die Umgebung beschreiben. «Ist der König anwesend?», fragt der Mann sein Handy. «Ja», antwortet das Gerät, «das sieht man daran, dass die Fahne auf dem Palast gehisst wurde.»
Eine sehbehinderte Frau, ausgerüstet mit einer speziellen Brille, betritt ein Lebensmittelgeschäft und nimmt ein Glas aus dem Gestell. Die Brille liest vor, was auf dem Etikett steht.
Mit solchen Videos werben Startups wie «Be My Eyes» oder «EnvisionGlasses» für revolutionäre Hilfsmittel für sehbehinderte Menschen und versprechen ein neues Zeitalter der Unabhängigkeit dank künstlicher Intelligenz.
Grosse Versprechen
Doch René Jaun, Technologie-Journalist beim Schweizer Magazin «Netzwoche», ist skeptisch. Seine Erfahrungen als blinder Mensch mit vermeintlich bahnbrechenden Hilfsmitteln waren oft ernüchternd. Viele neue Geräte hat er sich gekauft – jedes Mal wurde er enttäuscht: «Die Geräte hielten nicht annähernd das Versprechen.»
Er findet es grundsätzlich gut, dass Unternehmen versuchen, die neue KI-Technologie für Menschen mit Behinderung einzusetzen. Er nutzt bereits eine KI-basierte App, die Texte vorlesen kann. Eine wertvolle Hilfe – so lange sie einwandfrei funktioniert: Die App verwechselte auch schon Kopfwehtabletten mit Fusspilzcreme.
Es gibt noch viel zu tun
Bevor Sehbehinderte im Alltag neuartige Brillen oder Apps, welche die Umgebung beschreiben, zuverlässig nutzen können, gibt es noch einige Probleme zu lösen. Die KI verstehe nicht, in welchem Kontext sie gerade genutzt wird, erklärt Sarah Ebling, die als Professorin für Computerlinguistik an der Universität Zürich selber an Barrierefreiheit forscht. Die KI beschreibe Dinge, die im Moment nicht relevant sind und vom Wesentlichen ablenken. An einer Lösung werde geforscht.
Ein weiteres Problem sieht die Wissenschaftlerin im «Halluzinieren». Die KI merkt nicht, dass sie überfordert ist, und plaudert einfach weiter – und verwechselt so schon einmal zwei Medikamente. Auch an einer Lösung dieses Problems werde geforscht, so Sarah Ebling.
Das Smartphone, die stille Revolution
Digitale Technologie hat durchaus einen grossen Nutzen für Menschen mit Behinderung. Doch die wirklich bahnbrechende Erneuerung wurde gar nicht gross angekündigt, sagt René Jaun und meint damit das Smartphone.
«Vor 20 Jahren noch hatte ich Angst vor Touchscreens», erinnert sich der Technologie-Enthusiast. Es war für ihn unvorstellbar, dass eine blinde Person einen Bildschirm mit Gesten bedienen kann. Das änderte sich 2009 mit dem iPhone 3GS. Zum ersten Mal lieferte Apple ein Gerät mit Software aus, die Sehbehinderten Texte auf dem Bildschirm vorlesen kann. Von da an konnten auch blinde Menschen im Laden ein Handy kaufen und es zu Hause ohne Hilfe einrichten – fast wie ein Sehender, erzählt René Jaun.
Die sogenannten Screenreader auf iPhone und Android ermöglichen sehbehinderten Menschen den Zugang zu gängigen Apps – und damit zu einer ganz neuen Welt: René Jaun hat gerade beruflich eine Reise zu einer Konferenz in den USA gebucht. Danach erkundet er die USA in den Nachtzügen – alleine.