«Ich kenne die Besatzung, seit ich auf der Welt bin», erzählt Annemarie Jacir, geboren und aufgewachsen als Kind einer christlichen Familie in Bethlehem. «Wir mussten durch Checkpoints gehen und wurden durchsucht. Ohne dass uns die Eltern etwas sagten, verstand ich, dass wir anders waren und anders behandelt wurden.»
Bethlehem, der Ort der Geburt Jesu, liegt im Westjordanland. Ein paar Kilometer sind es nur bis nach Jerusalem. Doch heute trennt eine Sperrmauer die eine Stadt von der anderen.
«Die Trennung hat System»
Palästinenser aus dem Westjordanland dürfen nicht nach Israel reisen, viele von ihnen waren noch nie am Meer. «Wir haben alle Identitätskarten mit unterschiedlichen Nummern und Farben», erklärt Annemarie Jacir das komplexe System, das Israel in den Jahrzehnten seit seiner Gründung geschaffen hat.
«Es ist ein System der Trennung, der Apartheid. Israel ist ein jüdischer Staat. Du hast Rechte, wenn du Jude bist.» Als Muslim oder Christ sei man nur Bürger zweiter Klasse.
Die Gründe für dieses System der Trennung liegen in der Vergangenheit. Der Staat Israel wurde auf dem Territorium des historischen Palästina gegründet, einem früheren britischen Mandatsgebiet und ehemaligen Teil des Osmanischen Reiches.
Alte Bauten, neue Bewohner
Städte wie Jericho, Jerusalem, Nazareth oder Gaza existieren seit Tausenden von Jahren. «Als mein Vater geboren wurde, also vor 1948, war Palästina ein multiethnischer, multireligiöser Staat. Muslime, Christen und Juden lebten hier.»
Doch anstelle von Palästina gibt es heute Israel. Was man beispielsweise in Jaffa sehen kann, von dessen Hafen aus bereits im 19. Jahrhundert die berühmten Orangen gleichen Namens nach Europa verschifft wurden.
Die kleine Stadt, leicht erhöht am Meer gelegen, ist heute Teil von Tel Aviv und ein begehrter Wohnort für Gutbetuchte. Nur die alte Bausubstanz erinnert an jene Zeiten, als Israel noch Palästina hiess.
Viele flohen, manche blieben
Die ehemaligen Bewohner flohen oder verliessen die Stadt am 13. Mai 1948, nachdem die jüdischen Kampfverbände Hagana und Irgun Jaffa erobert hatten. Einen Tag später rief David Ben Gurion in Tel Aviv den Staat Israel aus.
Alle grösseren Städte und Gemeinden Palästinas waren damals bereits besetzt, geräumt und entvölkert. «Mehr als 500 Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, um sicherzustellen, dass niemand zurückkehren würde. Diese Leute leben heute in Jordanien, dem Westjordanland, in Syrien, im Libanon oder in Gaza», erzählt Annemarie Jacir.
Manche seien auch intern Vertriebene. Sie seien im Land geblieben, das heute Israel heisst. «Ihre Heimatdörfer stehen quasi vor ihrer Nase, aber sie dürfen nicht dahin zurückkehren.»
Schlüssel als Symbol der Rückkehr
«Würde die israelische Regierung jemandem eine Rückkehr erlauben, wäre dies ein Präzedenzfall für alle vertriebenen und geflüchteten Palästinenser. Deshalb wird dies nie geschehen», erklärt Niva Grünzweig von der Organisation Zochrot im Dokumentarfilm «Die Rückkehrer». Doch genau dieses Recht hat die Generalversammlung der UNO den Palästina-Flüchtlingen in der Resolution 194 am 11. Dezember 1948 zuerkannt.
Auf diese Resolution berufen sich viele Palästinenser eisern bis heute. Der Schlüssel – das Symbol der Rückkehr – ist in der Region allgegenwärtig: Er baumelt an Halsketten, wird auf Mauern gesprayt und ziert die Einfahrt zu den Flüchtlingslagern, in denen Palästinenser leben.
Neuer Pass öffnet Türen
Deshalb demonstrieren die Menschen aus dem überbevölkerten und isolierten Gazastreifen gegen jenen Staat, der auf dem Boden errichtet wurde, auf dem sie einst lebten: 70 Jahre Israel heisst für sie 70 Jahre Nakba.
Annemarie Jacir durfte jahrelang nicht nach Israel reisen. Heute wohnt sie mit Mann und Kind in Haifa, in einem der wenigen Orte, wo jüdische und arabische Israeli zusammenleben.
Sie kann hier leben, weil sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft annahm. «Es ist absurd, ich musste Amerikanerin werden, damit ich in meinem Land leben darf.»