Madeleine Schadegg-Rück war 19 Jahre alt, als ihr ihre Mutter einen Zettel in die Hand drückte. «Soldat Giberstein, Bernard, geboren in Warschau», stand auf dem Zettel. Und am Zettel war ein Foto festgemacht, ein Foto mit Soldaten.
Plötzlich hatte sie einen Vater. «Da war ich geschockt», sagt Madeleine Schadegg-Rück. «Und ich habe den Zettel und das Foto weggelegt».
Der Vater: Ein Geheimnis
Madeleine Schadegg-Rück wuchs mit ihrer Mutter und ihrer Grossmutter auf. Vom Vater hat die Mutter nie erzählt. «Sie hat immer gesagt: Das sag’ ich dir, wenn du gross bist. Und als ich gross war, sagte sie: Darüber rede ich nicht mehr».
Der Vater sei verschollen, sagte die Mutter nur. Auch sonst habe die Mutter niemandem erzählt, dass der Vater ein polnischer Soldat war. «Damit hat sie sich auch geschützt», sagt Madeleine Schadegg-Rück. Die Beziehung war nämlich verboten.
Beziehungen trotz Widerständen
Der Vater von Madeleine Schadegg-Rück war einer von rund 12'000 Polen, die 1940 von der deutschen Wehrmacht an die Schweizer Grenze abgedrängt wurden. Das Korps hatte nur noch wenig Munition, die Lage war brenzlig und der Bundesrat bewilligte den Grenzübertritt.
Die Polen wurden in Lagern untergebracht, verteilt über das ganze Land. Sie bauten in der Schweiz Strassen und Brücken. Aber sie durften keine Schweizerinnen treffen.
Im sogenannten «Orangen Befehl» von 1941 hiess es: «Den Internierten ist die Eingehung einer Ehe nicht gestattet. Es sind daher auch alle auf eine solche hinzielenden Beziehungen mit Internierten untersagt.»
Der «Orange Befehl» war bereits in Kraft, als sich Madeleine Schadegg-Rücks Mutter und ihr Vater trafen. Und die Mutter wusste aus der eigenen Familie, was passieren konnte, wenn die Polizei von solchen Beziehungen erfuhr: «Meine Tante sass drei Tage in einem Gefängnis, weil man sie denunziert hatte – Hand in Hand mit einem Polen», sagt Madeleine Schadegg-Rück.
Die lange Vatersuche
Als die Mutter schwanger wurde, hatte sie Bernard Giberstein im Lager noch gesucht, doch er war schon weg. Von ihm blieb lange nichts ausser dem Zettel mit seinem Namen. Und das Foto.
Jahrelang liess auch Madeleine Schadegg-Rück Zettel und Foto in der Schublade. Erst als sie selbst Mutter wurde, wollte sie wissen, woher sie kam. Sie wollte ihre Wurzeln finden. Also schrieb sie zuerst einen Brief ans Polnische Konsulat in Bern, wo man sie nach Warschau verwies. Und von dort hiess es, man finde nichts, die betreffenden Archive seien im Zweiten Weltkrieg verbrannt. Da habe sie die Suche wieder abgebrochen.
Wiederholt sei das so gegangen, sagt Madeleine Schadegg-Rück: Wieder ein Versuch, wieder kein Erfolg, wieder aufgegeben. Und später doch wieder angefangen. Denn es kamen immer mehr Spuren zusammen, aus der Schweiz und aus Frankreich.
Der Vater war ein Erfinder
1985 kommt dann vom Internationalen Roten Kreuz die Nachricht, dass ihr Vater 1976 in Paris gestorben sei. «Ich habe ihn wegen neun Jahren verpasst. Das hat mich sehr getroffen», sagt Madeleine Schadegg-Rück.
Und trotzdem sucht sie weiter. Und findet schliesslich heraus: Ihr Vater war ein berühmter Mann. Bernard Giberstein war der Gründer einer grossen Strumpffabrik. Und hat die nahtlose Strumpfhose erfunden. «Früher hatte man Strümpfe mit Nähten. Die waren teuer und unpraktisch. Mein Vater hat eine Maschine erfunden, die nahtlose, günstige Strümpfe aus Nylon herstellen konnte».
Geschichtsforschung gefordert
Madeleine Schadegg-Rück hat ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben. «Spuren» hat sie ihr Buch genannt. Ein Buch auch gegen das Vergessen, wie sie schreibt, «gegen das Vergessen der zahlreichen Nachkommen von polnischen Internierten, ihre nahezu unüberwindbaren Schwierigkeiten. Der vielen Frauen, die durch ihre Liebe zu einem Polen geächtet wurden».
Madeleine Schadegg-Rück hat ihre Vergangenheit aufgearbeitet. Genauso wie andere Nachkommen von internierten Polen, die ihre Geschichte im Buch «Interniert» erzählen, das kürzlich erschienen ist. Die Schweiz hat diesen Prozess noch vor sich. Rund um den «Orangen Befehl» und dessen Folgen ist immer noch zu wenig bekannt. Und noch viel zu tun.