Pastor Rob Schenck fühlt sich schuldig. Der militante Abtreibungsgegner von früher befürchtet, die Debatte um den Schwangerschaftsabbruch sei ausser Kontrolle geraten. Kirchliche Kreise und US-Präsident Donald Trump hätten die Frage so sehr politisiert, dass konservative Wähler nicht mehr zwischen Richtig und Falsch unterscheiden könnten.
Dabei hat das Bundesgericht die Abtreibung bereits 1973 legalisiert. Entschieden ist die Frage aber noch immer nicht.
«Es ging nur um mich»
Gut finanzierte kirchliche Organisationen haben die Kongresswahlen dieses Jahr dazu genutzt, die politische Rechte mit der Abtreibungsfrage zu mobilisieren. Mit dem konservativen Bundesrichter Brett Kavanaugh haben sie nun ihre wahrscheinlich letzte Chance, die volle Liberalisierung der Abtreibung rückgängig zu machen.
Pastor Schenck organisierte 1995 den ersten nationalen Gedenkgottesdienst gegen die Legalisierung der Abtreibung in Washington. Der Anlass ist bis heute in der Agenda konservativer Abgeordneter im Kongress notiert.
Schenck glaubte damals, sich im Zuge der Bürgerrechtsbewegung für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft einzusetzen: die Ungeborenen. Er tat das auch mit handfesten Aktionen: Schenck blockierte zusammen mit anderen militanten evangelikalen Christen jahrelang die Zugänge zu Abtreibungskliniken. Er belästigte das Personal und schüchterte sogar die schwangeren Frauen ein.
Die Gewalt erreichte vor 25 Jahren einen schrecklichen Höhepunkt. In den 1990er-Jahren attackierten Abtreibungsgegner insgesamt 173 Kliniken, legten 41 Bomben und ermordeten acht Menschen, darunter drei prominente Abtreibungsärzte. Pastor Schenck fühlte sich zunächst bestätigt. «Es ging darum, mit allen Mitteln zu gewinnen. Es ging nur um mich, es ging nur um uns.»
Die andere Seite lernte Pastor Schenck später kennen. Ein Rabbiner einer der drangsalierten Abtreibungsärzte schilderte ihm die Leiden der Schwangeren und des Klinikpersonals.
«Erst in diesem Moment habe ich meine Mitschuld an diesen schrecklichen Vorfällen erkannt», so Schenck. «Wer die Abtreibung mit politischen Absichten verfolgt, wird ausnahmslos den Schmerz, das Leiden und die Angst von jenen ausbeuten, die persönlich mit dem Problem konfrontiert sind.»
Schenck beschreibt seine Erfahrung als Bekehrung. «Der Wandel ist Teil des spirituellen Lebens», sagt er. «Wenn wir aufhören, uns zu verändern, stagnieren wir emotional, spirituell und intellektuell. Wir hören auf zu wachsen.»
Die meisten Amerikaner sind für Abtreibung
Damit steht der Pastor heute auf der Seite der Mehrheit der Amerikaner, welche die Abtreibung als Gewissensentscheid der Frau verstehen. Zwar lehnen 54 Prozent der Amerikaner die Abtreibung aus moralischen Gründen ab.
Genau 54 Prozent unterstützen gemäss einer Umfrage des Public Religion Research Institute aber auch die Legalisierung. Das entsprechende Grundsatzurteil des Bundesgerichts ist sogar für 67 Prozent der Amerikaner unverrückbares Recht.
Der stärkste politische Arm der religiösen Fundamentalisten ist die «Faith & Freedom Coalition». Ihr Direktor Ralph Reed weiss um die Hebelwirkung der evangelikalen Stimme. «Ohne die evangelikalen Stimmen hätte Donald Trump nie gewonnen. Er hätte die grösste Niederlage seit George McGovern (1972) erlitten.»
Die «Faith & Freedom Coalition» investierte allein dieses Jahr 18 Millionen Dollar in den Wahlkampf – 8 Millionen mehr als 2016 und 13 Millionen mehr als 2014. Dafür stand eine Datenbank mit rund 125 Millionen konservativen Wählern zur Verfügung. Sie erlaubte es bis zum letzten Tag vor der Wahl, konservative Wähler mit E-Mails und SMS zu mobilisieren.
«Gott muss einen guten Sinn für Humor haben»
Trump habe alle seine Versprechen gehalten, inklusive der Ernennung von abtreibungskritischen Richtern, erklärt Reed die Diskrepanz zwischen dem hohen moralischen Anspruch der Evangelikalen und dem skandalreichen Privatleben des Präsidenten.
«Gott muss einen guten Sinn für Humor haben», sagt Reed. «Manchmal werden die unwahrscheinlichsten Leute zu unseren stärksten Verbündeten. So war es auch mit Ronald Reagan, dem geschiedenen Hollywood-Schauspieler.»
Im Unterschied zu anderen sozialen Fragen wie die Ehe von homosexuellen Paaren hat der Kampf um die Abtreibung nie nachgelassen. Zum einen hat der durch die Tea Party ausgelöste Rechtsrutsch die Debatte erneut hochkochen lassen und die politischen Fronten verhärtet.
Zum andern wird die Debatte durch eine amerikanische Besonderheit geprägt. Die Abtreibung in den USA ist nicht gesetzlich geregelt, also nicht durch die Politik, sondern durch das höchste Gericht. Das erlaubt, das Thema immer wieder hochzukochen. Der Supreme Court kann jedes Urteil revidieren, solange die Bundesstaaten ihn mit Revisionsanträgen bombardieren.
Tatsächlich steht die entscheidende Auseinandersetzung nach der Wahl von Brett Kavanaugh ins Bundesgericht erst noch bevor. Obwohl er bei den Anhörungen vor dem Kongress den Grundsatzentscheid «Roe v. Wade» als «gesetztes Recht» beschrieb, weigerte er sich bei den Anhörungen, seine Rolle als Bundesrichter in der Abtreibungsfrage zu klären.
Roe und Wade stehen für die beiden Seiten, die sich am 22. Januar 1973 vor dem höchsten Gericht gegenüberstanden: eine schwangere Frau, die abtreiben wollte, und der Staatsanwalt von Texas, der die Abtreibung verbieten wollte.
Blockadepolitik
Das Bundesgericht entschied mit 7 gegen 2 Stimmen für das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Auf diesen Entscheid beruft man sich seither, wenn es um das Thema Abtreibung geht.
Das Bundesgericht wird sich in Kürze mit rund einem Dutzend Revisionsfällen befassen. Da nun die mässigende Stimme des zurückgetretenen Anthony Kennedy fehlt, ist ein Rückfall möglich – ein Rückfall, auf den die Republikaner seit Jahren hingewirkt hatten.
So blockierten sie vor drei Jahren die Wahl eines liberalen Bundesrichters so lange ab, bis er nicht mehr in der Amtszeit von Präsident Obama bestätigt werden konnte. Damit öffnete sich die Tür für die Trump-Richter.
Religiöse Richter für die Rechte
Die «Heritage Foundation» und «The Federalist Society» – zwei konservative Thinktanks – hatten dafür eine Liste von Richtern vorbereitet, die als zuverlässig konservativ galten und in der Abtreibungsfrage die religiöse Rechte vertreten würden. Trump übernahm die Liste eins zu eins und brachte mit Kavanaugh inzwischen schon den zweiten Richter dieser «moralischen Mehrheit» ins Bundesgericht.
Derweil hatte sich der Kampf in den Süden und Mittleren Westen verschoben. Die konservativen Bundesstaaten hatten seit 1973 über 1100 einschränkende Vorschriften erlassen und damit ein undurchsichtiges gesetzliches Flickwerk geschaffen.
Heute kennen lediglich neun Bundesstaaten an der Westküste und im Nordosten die volle Legalisierung der Abtreibung. Daneben sind gemäss dem «Center for Reproductive Rights» 22 Staaten bereit, die Abtreibung zu verbieten, wenn das Gesetz «Roe v. Wade» ausser Kraft gesetzt werden sollte.
Ein Blick auf die Demografie zeigt dabei eine nur selten offen diskutierte Realität. Betroffen von einer Verschärfung der Gesetze wären in erster Linie afroamerikanische und Latina-Frauen sowie generell Frauen mit tiefen Einkommen.
Weniger Abtreibungen, weniger Kliniken
Das American Journal of Public Health zeigte kürzlich, dass die Zahl der Abtreibungen zwar zwischen 2008 und 2014 um ein Viertel gesunken sind – aber deutlich weniger für ärmere Frauen und Minderheiten. 1987 zum Beispiel wurden 30 Prozent der Abtreibungen von Frauen mit tiefen Einkommen vorgenommen, 2014 waren es bereits 49 Prozent. Abtreibungen von afroamerikanischen Frauen sind heute dreimal häufiger als von weissen Frauen.
1982 noch waren 2900 Abtreibungskliniken in Betrieb, 2014 waren es gemäss dem Guttmacher Institute nur noch 1671. Derzeit haben ein halbes Dutzend konservativer Staaten nur noch eine Klinik.
Das zwingt Frauen wieder vermehrt dazu, in Nachbarstaaten zu reisen, um abzutreiben. Somit sind die Leidtragenden vor allem die Armen. Abtreibungsrechtsgruppen versuchen nun, mehr Unheil zu verhindern. Planned Parenthood, die führende Familienberatungsorganisation des Landes, investiert bereits vorsorglich in Kliniken in Staaten mit sicheren Abtreibungsrechten wie Kalifornien, Oregon und Rhode Island.
Pop-up-Reisebüro für benachteiligte Frauen
Direktorin Rachel Sussman sagt, die Organisation fühle sich verpflichtet, für jenen Tag zu planen, «an dem ‹Roe v. Wade› nicht mehr da ist». Eine Gruppe von Patientenvertretern gründete sogar ein Pop-up-Reisebüro, um Frauen bei der Suche nach Kliniken zu helfen.
Die Frauenärztin Colleen McNicholas aus St. Louis reist regelmässig in drei anliegende Bundesstaaten mit restriktiven Vorschriften, um pro Tag bis zu 30 Abbrüche durchzuführen. Denn: 94 Prozent der Counties im Mittleren Westen haben keine Abtreibungsklinik und mehr als 13 Millionen Frauen keine Möglichkeit zu einer sicheren Abtreibung.
«Die Qualität der Gesundheitsversorgung hängt von der Postleitzahl ab», sagt Colleen McNicholas. «Das ist eine Tragödie für eines der reichsten Länder der Welt».
Entscheidungen über Leben und Tod
Die Gegner der Abtreibung seien nicht «Pro Life», sondern Vertreter des Gedankens «Anti Choice» – gegen die freie Wahl der Frauen, so die Frauenärztin. Verschärft wird die Situation dadurch, dass die staatliche Versicherung Medicare die pränatale Gesundheitsversorgung in ländlichen Gebieten ungenügend abdeckt.
Dadurch verpassen Frauen die Abtreibung mit der Pille im frühen Stadium der Schwangerschaft. «In solchen Fällen kann die ärztliche Betreuung über Tod und Leben des Kindes und der Mutter entscheiden.»
Comeback der Kurpfuscher?
Was immer in Sachen Roe v. Wade entschieden wird, ist es unwahrscheinlich, dass die Ära der Kurpfuscher zurückkommt, in der Schwangere in der Illegalität unprofessionell behandelt werden. Das hat mit technologischen Innovationen wie der Telemedizin sowie den Ressourcen des Internet zu tun habe, sagt Maja Manian, Rechtsprofessorin an der Universität San Francisco.
Aber einzelne Bundesstaaten könnten auch die Telemedizin unterbinden, so wie sie das bereits mit der Abtreibungspille versuchen. «Es heisst noch nicht, dass es in Ordnung ist, die Abtreibung wieder illegal zu machen, selbst wenn wir wegen der technologischen Fortschritte nicht in die Zeit der Kleiderbügel zurückkehren», sagt sie und bezieht sich damit auf den Draht als improvisiertes und gefährliches Abtreibungswerkzeug.
Für Angehörige der evangelikalen Freikirchen bleibt die Abtreibung der grosse moralische Kampf. 78 Prozent der Evangelikalen halten sie für eine Todsünde und lehnen sie strikt ab. Entsprechend wählen sie auch die Kongressabgeordneten, selbst wenn sie so dem moralisch anrüchigen Präsidenten folgen.
Für Pastor Schenck ist zwar nachvollziehbar, weshalb die Evangelikalen Trump unterstützen. Zu verzeihen sei es dennoch nicht, sagt er. «Sie haben einen Teufelspakt mit Trump geschlossen.»
Doch der Wind könnte sich drehen: Die republikanische Partei erstarrt immer mehr unter dem Druck der Anti-Abtreibungsfraktion, immer mehr jüngere und parteilose Wähler wenden sich ab. 65 Prozent der Millennials wollen die Abtreibung ein- für allemal legalisiert haben.
Das zeigt jüngst eine Umfrage des «Public Religion Research Institute». Das politische Kalkül mit der Abtreibung nähert sich seiner Ablauffrist.