Am 3. Februar 1987 erfuhr es die Schweiz. «Dieses kleine Ding, meine Damen und Herren, kann Leben retten.» Das sagte der beliebte SRF-Moderator Charles Clerc in der Hauptausgabe der «Tagesschau».
Dabei rollte er gekonnt ein Präservativ über den Mittelfinger der rechten Hand. Anlass des abgesicherten Stinkefingers war der Beitrag über die Medienkonferenz für die Stop-Aids-Kampagne.
Kampagne und Kritik
Die Kampagne gab den Betroffenen und Sterbenden Hoffnung, weil das Thema öffentlich wurde. Weil das Bundesamt für Gesundheit in Zusammenarbeit mit der Aids-Hilfe Mut bewies, angefeuert von seinem damaligen Leiter der Sektion «Übertragbare Krankheiten», dem Arzt Bertino Somaini.
Er wiederum liess sich vom jungen Mediziner Ruedi Lüthi und seiner Kritik anstacheln. Das BAG solle sich mit den wirklich brennenden Fragen beschäftigen. Dazu gehöre Aids, so Lüthi.
600 Fälle waren in den USA bereits bekannt. Gehäufte Lungenentzündungen und bösartige Tumoren wurden diagnostiziert.
«Gay Related Immunity Deficiency»
Dann brach die sogenannte «Schwulenpest» auch in der Schweiz aus. Charles Clerc war 37 Jahre alt, als er erstmals von der Immunschwäche GRID hörte, der Krankheit «Gay Related Immunity Deficiency». Später hiess die Krankheit Aids, und sie betraf und betrifft alle.
Schwuler Sex fand damals ungeschützt statt, und die Risikogruppe musste büssen, erzählt Clerc im neuen Buch «Positiv. Aids in der Schweiz»: «Für meine Generation war das furchtbar. Dank der Lockerungen durch die 68er-Bewegung fand man sich langsam etwas zurecht, konnte langsam etwas mehr zu sich stehen. Aids stellte alles wieder infrage.»
Mehr Eigenverantwortung, weniger Angst
Der Sammelband «Positiv. Aids in der Schweiz» lässt Akteure der ersten Stunde sprechen, Betroffene erzählen und räumt den wirkungsmächtigen Stop-Aids-Kampagnen des Bundesamts für Gesundheit viel Platz ein.
Zu recht: Das BAG setzt nicht auf Angst, sondern auf Eigenverantwortung – und es macht Aids zum Problem von allen. Unterstützt wure das BAG von der Aids-Hilfe Schweiz, die als Treiber der ersten Stunde gelten darf und schon im Gründungsjahr 1985 auf grosse Resonanz stiess.
Der bekannte Fernsehjournalist André Ratti wurde der erste Präsident. Er war bekennender Schwuler, machte seine Aids-Krankheit öffentlich und starb 1986.
Porno, Plakate, Protest
Die Stop-Aids-Kampagne mit dem rosa Pariser ist unvergesslich und prägte mit Sätzen wie «Ohne Dings kein Bums» eine ganze Generation. Der Schweizer Staat bzw. das Bundesamt für Gesundheit engagierte 1987 zum ersten Mal eine Werbeagentur und wählte von den Werbevorschlägen immer wieder den radikalsten.
So auch 2014. Im Rahmen der Love-Life-Kampagne prangten auf den Plakaten echte Schweizer und Schweizerinnen bei echtem Sex. Neuerdings auch Frauenpaare.
Protest gab es auch hier. Die Plakate hingen nur zwei Wochen, aber die Presse blieb monatelang am Ball. Ob der Bund Pornos drehen oder aber zeitgemässe Aufklärung betreiben würde – das bewegte die Öffentlichkeit.
Und wo sind die Frauen?
Der Sammelband «Positiv. Aids in der Schweiz» überzeugt mit sorgfältig recherchierten Geschichten und leicht lesbaren Texten. Die Autorschaft rückt in den Hintergrund, kommen doch alle Texte in einem ähnlichen Ton daher. Knallige Einstiege, farbige Schauplätze und kurze Sätze sollen die Leserin bei Laune halten.
Was fehlt, ist eine frauenspezifische Perspektive. Sex zwischen Frauen und Ansteckung zwischen Frauen ist genau so wenig ein Thema wie der Fakt, dass sich in der Schweiz 73 Prozent der Frauen mit HIV-Diagnose hauptsächlich auf heterosexuellem Weg anstecken.
Der Herausgeber dankt dafür im Nachwort allen Leserinnen und Lesern, die bei ihrer nächsten Affäre ein Kondom benützen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 6.2.2018, 17:10 Uhr