Als Hans Peter Jost in den 1960er-Jahren als Jugendlicher die deutsche Ausgabe von Radio Tirana hört, glaubt er, das Paradies gefunden zu haben. Von einem vollkommenen Land ist da die Rede. Eines, in dem es weder Arbeitslose noch Steuern und Inflation gibt, in dem Gleichberechtigung herrscht und in dem es für alle eine kostenlose medizinische Grundversorgung gibt. Das sozialistische Albanien sei ein freies, unabhängiges Land mit einer Arbeiterschaft «voller flammender Liebe zur Partei und zur Volksmacht».
Dass das meiste davon nicht wahr sein kann, wird Jost klar, als er das vermeintliche Paradies besuchen will: Wer Anfang der 1980er-Jahre nach Albanien einreisen will, braucht ein Visum, muss lange Haare abschneiden und darf keine T-Shirts mit Aufdruck tragen.
Ausserdem sind nur geführte Gruppenreisen möglich, die keinen Blick hinter die Kulissen zulassen. Dem Individualisten Jost sind solche Auflagen ein Graus. Deswegen ändert er seine Pläne und bleibt Zuhause.
Was Radio Tirana in die Welt sendet, ist Propaganda in Reinform. Tatsächlich herrschen im sozialistischen Albanien alles andere als paradiesische Zustände. Oliver Schmitt, Professor für Geschichte Südosteuropas an der Universität Wien, spricht denn auch nicht von Sozialismus, sondern von knallhartem Kommunismus stalinistischer Prägung.
Das Land war 1912 vom Osmanischen Reich in die Unabhängigkeit entlassen worden. Im Zweiten Weltkrieg wurde es erst vom faschistischen Italien, dann von Hitler-Deutschland besetzt. Kleine Partisanengruppen versuchten, Widerstand zu leisten. Dabei erhielten sie Unterstützung von Jugoslawien, an dessen Spitze Josip Broz Tito und die Kommunistische Partei standen.
Als die Nationalsozialisten 1944 den Krieg verloren und aus Albanien abzogen, übernahm die stärkste der Widerstandgruppen die Regierung: die Partei der Arbeit mit Generalsekretär Enver Hoxha. Albanien wurde zur Sozialistischen Volksrepublik erklärt, an deren Spitze Hoxha als diktatorischer Herrscher mit unerbittlicher Härte regierte.
46 Jahre Abschottung
«Das Regime Hoxha war eine der schlimmsten Terrorherrschaften. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung wurde in Zwangsarbeiterlager gesteckt. Aufgrund einer völlig verfehlten Wirtschaftspolitik herrschte grosser Hunger», erklärt der Historiker.
Ganze 41 Jahre lang hielt sich Hoxah an der Macht. Erst als er 1985 starb, begannen die Regierungsstrukturen zu bröckeln. Studenten zettelten Massendemonstrationen an, und die europäischen Botschaften erlebten einen Ansturm von Menschen, die das Land verlassen wollten.
1990 gab die sozialistische Partei bekannt, dass bei den nächsten Wahlen auch andere Parteien zugelassen sein sollen. Das kam einer Kapitulation gleich. Nach 46 Jahren Tyrannei und Abschottung öffnete Albanien seine Grenzen – einer der ersten, die im Flugzeug nach Tirana sassen, war Hans Peter Jost.
Kühe auf der Landebahn
Als der Fotograf sich 1991 zum ersten Mal im Anflug auf Tirana befindet, müssen erst die Kühe von der Landebahn vertrieben werden, bevor das Flugzeug aufsetzen kann. Vor dem Flughafen stehen eine ganze Menge Männer, die ihre Taxidienste anbieten.
«Nach der Öffnung des Landes fiel eine Horde von Journalisten, Missionaren und Geschäftsmännern über Albanien her - nicht immer mit guten Absichten», erzählt Jost. Ein amerikanischer Vertreter eines Chemiekonzerns habe ihm erzählt, dass er nach Albanien fliege, weil er hier giftige Stoffe verkaufen könne, die anderswo mittlerweile verboten seien.
Während das Interesse am neu zugänglichen Albanien von aussen gross ist, ergreifen viele Albanerinnen und Albaner die Flucht. Sie haben genug von Hunger und Armut und hoffen woanders auf ein besseres Leben. «Hunderttausende Menschen migrierten völlig unkontrolliert aus dem Land. Was Albanien in 1990er-Jahren erlebte, war eine gesellschaftliche Implosion», so Schmitt.
Mittendrin in diesem Tumult: Hans Peter Jost und seine Kamera. Aus dem Teenager, der die Fotografie als Hobby entdeckte, ist zwischenzeitlich ein gestandener Pressefotograf geworden. «Die Menschen in Albanien baten mich darum, der Weltöffentlichkeit zu zeigen, in welcher Misere sie unter der Diktatur leben mussten», erzählt er.
Jost besucht Städte und Industriewerke, fährt aufs Land und in abgelegene Bergregionen. Seine Bilder zeigen ein Land, dem es an allem mangelt und dessen Produktionsstätten weit hinter dem europäischen Standard zurückliegen.
«Ich bin kein Kriegsfotograf»
Anfang der 1990er-Jahre befindet sich die albanische Gesellschaft in einem Zustand, in dem die meisten Menschen nicht wirklich wissen, was Geld ist. Spekulanten nützen diese Situation aus, bauen betrügerische Schneeballsysteme auf und versprechen den Menschen bei Beteiligung hohe Gewinnauszahlungen.
Als diese Konstrukte 1997 in sich zusammenfallen, geht eine Schockwelle durchs Land. Viele Menschen haben ihr ganzes Erspartes, manche sogar ihre Häuser investiert. Was folgt, ist eine ungeheure Wut, die sich in Aufstände entlädt. Dabei gerät eine Unmenge an Waffen in Umlauf, die aus Plünderungen von staatlichen Waffenreservoirs stammen.
Albanien befindet sich aufgrund des sogenannten «Lotterieaufstands» in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand. Auch wenn er seine Kamera als Mittel sehe, um Missstände aufzudecken, sei er kein Kriegsfotograf, sagt Jost. Darum fliegt er zehn Jahre lang nicht mehr nach Albanien.
Marlboro und Mafia
Doch das Land lässt ihn nicht los, und 2008 unternimmt er die nächste Reise. «Zuerst wollte ich meinen Augen kaum trauen, denn es war unglaublich, wie sich alles verändert hatte.»
Das dokumentieren auch Josts Bilder aus dieser Zeit: Der Einzug des Kapitalismus lässt sich an Werbung für Coca-Cola und Marlboro ablesen. In den Innenstädten wurden moderne Neubauten hochgezogen. Auch auf dem Land war zwischenzeitlich ein Bauboom ausgebrochen, auch wenn viele Gebäude nicht fertiggestellt wurden.
Der Glanz vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass in Albanien bei weitem nicht alles so läuft, wie es sollte. «Mit dem Wachstum nahm auch die organisierte Kriminalität zu, die wiederum eng mit der Politik verbandelt war», sagt Oliver Schmitt.
Viele von Josts Fotografien zeigen die grosse Armut, die abseits der städtischen Zentren herrscht. Hinzu kommt, dass die albanische Gesellschaft nur schlecht mit der Konsumwelle umgehen kann, die über das Land hereinbricht. Aus Mangel an Entsorgungsmöglichkeiten landen Plastikverpackungen in Strassengräben.
Die sieben Kinder
Bis heute ist der Fotograf unzählige Male nach Albanien zurückgekehrt und hat dabei Tausende Bilder geschossen. Eines davon hat ihn besonders beschäftigt. Es zeigt sieben Kinder im Alter von etwa fünf Jahren in dreckigen Kleidern, die mit ernster Miene in die Kamera blicken.
«Ihre Gesichter sind nicht die Gesichter von Kindern, sondern von alten Menschen, die ein kummervolles Leben hinter sich haben. Das hat mich wahnsinnig berührt», sagt Jost.
Das Foto, das 1992 entstand, hängt jahrelang in seinem Atelier. Immer wieder fragt er sich, was wohl aus den Kindern geworden sein mag. 2016 beschliesst er, es herauszufinden.
Die Suche gestaltet sich schwierig, denn mittlerweile ist rund ein Vierteljahrhundert vergangen. Jost weiss nicht mehr, wo er das Foto geschossen hat, und kennt auch die Namen der Kinder nicht. Darum veröffentlicht er in sozialen Medien einen Aufruf, der ergebnislos bleibt. Auch ein Auftritt im albanischen TV bringt kein Resultat.
Jahrelange Suche
So reist Jost mehrmals in die Bergregion und zeigt das Bild dort herum. Doch erst als er den Hintergrund von anderen Bildern aus der gleichen Serie vergrössert, worauf Details der Umgebung zu erkennen sind, bekommt er den Hinweis, dass er sich im Dorf Skavica umsehen solle.
Dort glaubt man, einen der Buben zu erkennen. Er heisse Afrim und wohne mittlerweile in Frankreich. Also reist Jost via Belgien nach Lille. Doch leider verläuft diese Spur im Sand.
«Ich war kurz vor dem Verzweifeln», erinnert sich Jost, denn mittlerweile dauert die Suche nach den Kindern schon drei Jahre. Erst ein erneuter öffentlicher Aufruf in den sozialen Medien bringt den entscheidenden Anruf aus England. Er führt zu Tony Mena, der tatsächlich auf der Fotografie abgebildet ist (als dritter von links).
So kommt es 27 Jahre später zum Wiedersehen zwischen dem Fotografen und den sieben Kindern, die mittlerweile gestandene Männer und Frauen sind. Einige leben in Griechenland und England, die beiden Mädchen dagegen haben Albanien nie verlassen. Tony Mena erzählt, dass er sich extrem über das Bild freue. «Es ist das einzige, das ich aus meiner Kindheit besitze.»
«Albanien ist kein Rechtsstaat»
Menas Schicksal ist repräsentativ für das vieler Albaner: Mit gerade mal 15 Jahren entschloss er sich auszuwandern, weil er in diesem Land ohne Arbeit und voller Korruption keine Zukunft für sich sah.
2002 schlägt er sich allein nach England durch. Dort arbeitet er als Landschaftsgärtner und Hilfsmaurer. Ob er dereinst nach Albanien zurückkehren wird, ist unklar. «Die Arbeitslage ist heute zwar besser. Aber es ist noch immer ein Kampf, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen.»
Tatsächlich sind die Rahmenbedingungen in Albanien weiterhin schlecht. «Albanien ist kein Rechtsstaat», sagt Historiker Schmitt. «Die jetzige Regierung von Edi Rama ist nichts anderes als die Fortsetzung der kommunistischen Partei.» Eine Aufarbeitung habe nie stattgefunden. Somit seien auch die Täter nie zur Rechenschaft gezogen worden.
Die meisten möchten bleiben – eigentlich
Wirtschaftlich gesehen ist Albanien eines der ärmsten Länder Europas. Es ist allerdings kein Entwicklungsland mehr, sondern wird den Schwellenländern zugerechnet. Der Balkan-Staat gehört zu den europäischen Ländern, in denen die Bevölkerungszahl am meisten abnimmt: 1990 waren es 3.2 Millionen, heute nur noch 2.8, Tendenz fallend.
Und Hans Peter Jost? Der 69-Jährige steckt derzeit in einem Filmprojekt, in dem er die Entwicklung Albaniens dokumentieren will. Dafür reist er mit Tony Mena nach Skavica zurück, also in das kleine Bergdorf, in dem 1992 das Foto mit den sieben Kindern entstand.
Jost wird das osteuropäische Land am Mittelmeer bestimmt noch oft bereisen. Denn während seiner zahlreichen Besuche habe er eine Menge Freundschaften geschlossen. Zudem sei ihm das Land trotz dessen Widersprüchlichkeit ans Herz gewachsen.
«Ich wünsche mir für Albanien Arbeitsbedingungen und Strukturen, die es jungen Menschen ermöglichen, in ihrem Land bleiben zu können», sagt er. «Denn eigentlich möchten die meisten von ihnen doch genau das: bleiben.»