Seit die Taliban an der Macht sind, wurden in Afghanistan die Frauen aus der Öffentlichkeit verdrängt. Warum sich dabei für viele kaum etwas geändert hat, erklärt die Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi.
SRF: Sie waren vor zwei Wochen in Kabul. Haben Sie sich als Frau sicher gefühlt?
Waslat Hasrat-Nazimi: Das kommt darauf an, wie man Sicherheit definiert. Wenn man sie so versteht, dass es weniger Anschläge gibt, weil nun diejenigen an der Macht sind, die früher die Anschläge ausgeübt haben, dann ja.
Gleichzeitig merkt man, wie sehr die Männer von Angst befallen sind. Sie achten genau darauf, wie sie sich bewegen und wie sie mit Frauen interagieren. Am besten gar nicht.
Frauen sollen möglichst unsichtbar sein?
Ja, zum Beispiel an den Checkpoints: Wenn die Taliban sehen, dass eine Frau im Auto sitzt, dann winken sie es durch. Sie vermeiden es möglichst, ein Auto mit Frauen zu durchsuchen. Auch im Strassenbild sieht man viel weniger Frauen als früher.
Die Taliban bestrafen nicht die Frauen selbst, wenn diese über die Stränge schlagen, sondern die Männer.
Ab der 6. Klasse ist es für Mädchen verboten, Bildung zu erhalten. Frauen dürfen nicht mehr an die Universität gehen. Von den meisten Berufen sind sie ausgeschlossen. Frauen sollen aus der Öffentlichkeit herausradiert werden. Sie dürfen inzwischen noch nicht einmal mehr in öffentliche Parks gehen.
Warum setzen sich nicht mehr Männer für Frauen ein?
Als den Frauen die Universitätsbildung verboten wurde, haben anfangs auch viele Männer protestiert. Doch in Afghanistan werden die Männer, die sich den patriarchalen Strukturen widersetzen, umso mehr bestraft. Die Taliban bestrafen nicht die Frauen, wenn diese über die Stränge schlagen, sondern die Männer zu Hause.
Die Macht der Taliban reicht bis in die Familienstrukturen hinein. So überlegen sich der Vater oder der Bruder dreimal, ob sie der Tochter oder Schwester erlauben, nach draussen zu gehen oder andere Dinge zu tun, die nicht gern gesehen sind.
In Ihrem Buch «Die Löwinnen von Afghanistan» kritisieren Sie die Rettungsfantasien weisser Feministinnen.
Die westlichen Verbündeten haben nach dem Sturz der Taliban 2001 ihre 20 Jahre dauernde Präsenz in Afghanistan auch mit den afghanischen Frauen legitimiert. Es gibt die berühmte Rede von Laura Bush, der Frau des damaligen US-Präsidenten George W. Bush. Darin betonte sie, wie wichtig es sei, die afghanischen Frauen zu retten.
Für viele Frauen in Afghanistan hat sich nichts verändert, seit die Taliban an der Macht sind.
Das bezeichne ich als die «Rettungsfantasie weisser Feministinnen». Ihnen ging es nicht wirklich um die Selbstbestimmung der afghanischen Frauen, sondern um militärische Interessen. Sie haben im Schulterschluss mit dem US-Militär den Krieg in Afghanistan legitimiert.
Die Frauen wurden als Mittel zum Zweck benutzt?
Ja. Man hat gesagt: Schaut her, dank uns können Mädchen wieder zur Schule gehen. Es wurden Zahlen genannt, die überhaupt nicht der Realität entsprachen. Wenn man genauer hinschaute, sah man, wie viel Geld, das eigentlich in Schulen fliessen sollte, in den Taschen von korrupten Politikern und Warlords landete.
In vielen Gebieten des Landes sah die Lebensrealität von Frauen damals nicht anders aus als heute. Für viele hat sich nichts verändert, seit die Taliban an der Macht sind. Wir haben von diesen Frauen nur nicht gehört, weil es nicht dem Narrativ entsprach. Das Narrativ war: Der westliche Einsatz in Afghanistan bringt Frauen Rechte und Freiheit. Ab jetzt können alle Frauen arbeiten, ihr eigenes Geld verdienen und sich bilden. Die Realität ist eine andere. Es gab diese Frauen, aber es war stets eine Minderheit.
Das Interview ist ein Auszug aus der «Sternstunde Religion». Die Fragen stellte Ahmad Milad Karimi.