Safia war in der elften Klasse, als die Taliban vor eineinhalb Jahren die Schulbildung für Mädchen in der Sekundarstufe verboten. «Es fühlt sich schrecklich an», sagt der Teenager. «Alle unsere Träume sind zerbrochen.» Statt Mathematik und Geografie zu büffeln, muss Safia nun Teppiche knüpfen.
Sie gehört zum Stamm der Hazara. Das ist eine unterdrückte ethnische Minderheit in Afghanistan. Zusammen mit ihren Schwestern ist Safia zur Hauptverdienerin der Familie geworden. Der Vater hat seine Arbeit nach der Machtübernahme der Taliban verloren – wie Millionen anderer Menschen.
Auch an diesem Tag sitzen die Schwestern schon seit Stunden nebeneinander auf einer Holzbank ihrer Wohnhöhle und knüpfen mit flinken Fingern Teppichknoten. Im zentral-afghanischen Hochland, wo sie wohnen, sind Hunderte solcher Höhlen in die Sandsteinfelsen gehauen. Sie sind eng, dunkel und werden von armen Familien bewohnt.
An der Wand hängt ein grosser Teppichrahmen, an der Decke Bündel grauer Wolle. Die Schwestern müssen den Rahmen so schnell wie möglich mit Knoten füllen – was Wochen dauern kann. Erst, wenn der Teppich fertig ist, gibt es wieder Geld.
«Seit mehr als 500 Tagen bin ich nicht mehr in die Schule gegangen», sagt Safia. Dabei hat sie so viel vor mit ihrem Leben. Ökonomin wolle sie werden, erzählt sie. Und als Regierungsangestellte die darbende afghanische Wirtschaft wieder auf die Beine bringen.«So viele Leute sind arbeitslos. Sie sollten wieder Arbeit bekommen und auf den eigenen Füssen stehen.»
Doch die grosse Vision muss warten. Gerade hat das neue Schuljahr in Afghanistan begonnen – ohne Mädchen. Safia dreht sich zurück zur Wand. Sie muss das Geld für das nächste Brot verdienen.
Hochschulverbot für Frauen
Husna erinnert sich noch genau an den Tag, an dem ihre Zukunft in Scherben zerbrach. Es war Yalda, der Tag der Wintersonnenwende, Ende Dezember letzten Jahres. Die 20-Jährige war mitten im Abschlussexamen ihres Medizinstudiums. «Ich sah die Mitteilung der Universität im Whatsapp-Chat, dass wir die Prüfungen abbrechen sollten. Es war furchtbar.»
Die Taliban begründeten den Entscheid damit, dass Studentinnen die islamischen Kleiderregeln und die geforderte Geschlechtertrennung an den Universitäten nicht eingehalten hätten.
Sie habe tagelang geweint, sagt Husna. Bleich und in traditionelles Schwarz gekleidet, sitzt sie auf einem Sofa in der Hauptstadt Kabul. Herzchirurgin wollte sie werden, die erste Ärztin in der Familie. Die Familie nannte sie «Miss Doktor». Husna, die immer als Klassenbeste brilliert und zwei Schuljahre übersprungen hatte, versucht nun, ihr Wissen mit Online-Kursen frisch zu halten.
Nur, wofür? «Die Zukunft ist ungewiss. Das Recht auf Bildung ist uns gestohlen worden. Es ist kaum zu ertragen.»
Haft und Misshandlung wegen Aktivismus
Die Aktivistin Zhulia Parsi will sich das nicht gefallen lassen. Seit der Machtübernahme der Taliban darf die frühere Regierungsangestellte nicht mehr arbeiten. Und ihre Teenager-Töchter dürfen nicht mehr zur Schule gehen. «Sie waren sehr deprimiert. Darum habe ich angefangen, für ihre Rechte zu kämpfen.»
Zhulia Parsi, die in Wirklichkeit anders heisst, hat schon mehr als 30 Demonstrationen für Frauenrechte und -bildung organisiert. Ein schwieriges Unterfangen, bei dem alle Teilnehmerinnen Kopf und Kragen riskieren.
«Ich bin schon drei Mal schlimm misshandelt worden», erzählt Parsi. «Ende Dezember haben die Taliban einen Haftbefehl mit Foto gegen mich erlassen und an alle Provinzen verschickt.»
Würde sie reisen, müsste die Enddreissigerin befürchten, an jedem Checkpoint festgehalten zu werden. Auch in ihrer Heimatstadt Kabul kann sich die fünffache Mutter nicht mehr frei bewegen.
Verbotsliste wurde immer länger
Kein anderes Land der Welt unterdrückt Frauen so sehr wie Afghanistan – im Namen des Islam.
Mädchen ab Klasse 7 dürfen nicht mehr zur Schule zu gehen, Frauen nicht mehr arbeiten. Ausserdem müssen sich Mädchen und Frauen auf der Strasse verhüllen und dürfen nur noch mit engen männlichen Verwandten reisen. Parks, Fitnessstudios und Bäder sind für sie tabu.
Seit Ende Dezember letzten Jahres ist es Frauen auch verboten, in Nichtregierungsorganisationen zu arbeiten und an Universitäten zu studieren.
Parsi erinnert das alles an die erste Regierung der Taliban, zwischen 1996 und 2001. Schon einmal haben die Gotteskrieger Frauen nach Hause verbannt. «Unser erstes Ziel ist es, den Taliban zu zeigen, dass sie nicht über Frauen herrschen können wie vor 20 Jahren. Ihnen zu zeigen, dass wir jetzt gebildet sind. Und unser zweites Ziel ist es, der Welt zu zeigen, dass die Taliban sich nicht verändert haben. Sie sind genauso brutal wie vor 20 Jahren.»
Lange haben Zhulia Parsi und ihre Mitstreiterinnen auf offener Strasse demonstriert. Inzwischen sei das sehr gefährlich geworden, sagt sie. Auch auf dem Weg zu diesem Treffen hat sie dreimal das Taxi gewechselt. Sie hatte Angst, dass ein Regierungsspion am Steuer sitzen und sie verraten könnte.
«Mein Leben ist gefährlich und chaotisch geworden.» Zu Hause kann sie nicht mehr wohnen. Achtmal ist sie schon umgezogen. Jedes Mal haben die Taliban sie gefunden. «An manchen Tagen denke ich, wenn ich nicht protestieren und Slogans brüllen würde, dann würde ich mich umbringen.»
Zumindest der Bildungsbann ist unter den Taliban umstritten: Einige Minister in Kabul haben das Verbot zuletzt offen kritisiert. Doch das letzte Wort hat Mullah Hibatullah Achundsada, der erzkonservative Taliban-Führer in Kandahar. Die Gotteskrieger sind ihm zu striktem Gehorsam verpflichtet.