Afghanistan ist auf Hilfslieferungen angewiesen. Aber seit Weihnachten haben viele internationale Organisationen ihre Arbeit unterbrochen. Es ist eine Reaktion auf eine Massnahme der Taliban: Sie haben den Frauen die Arbeit in den Hilfswerken verboten. Was das für die Menschen im Land heisst, erläutert Stefan Recker. Er ist Leiter des Büros von Caritas International in Kabul.
SRF News: Wie muss man sich die Situation für die Hilfsorganisationen vorstellen?
Stefan Recker: Die Taliban hatten am 24. Dezember befohlen, dass Frauen nicht mehr bei Hilfsorganisationen arbeiten dürfen. Das heisst, wir haben keinen Zugang mehr zu weiblichen Hilfsbedürftigen. Daher haben wir das Programm pausiert.
Machen Sie derzeit gar nichts mehr?
Von unseren zehn Hilfsprojekten in Afghanistan sind drei medizinische Projekte – ein Lepra-Tuberkulose-Projekt, ein Behindertenprojekt und ein Mutter-Kind-Gesundheitsprojekt. Diese laufen weiter. In solchen Projekten können Frauen nach wie vor arbeiten.
Das heisst, im Bereich Gesundheitsversorgung wurde ein Arbeitsverbot wieder aufgehoben?
Genau richtig. Das Wirtschaftsministerium hatte befohlen, dass Frauen nicht mehr bei Hilfswerken arbeiten dürfen. Aber am nächsten Tag hat das Ministerium für öffentliche Gesundheitsversorgung gesagt, dass dieser Befehl die Gesundheitsprojekte nicht betrifft.
Es finden keine Verteilungen statt – von Geld, von Winterhilfe, also Kleidung, Heizmaterial, aber auch von Nahrungsmitteln und Saatgut.
Viele Menschen sind auf Hilfe angewiesen, nicht nur medizinisch. Was bedeutet das für die restlichen Hilfsprojekte?
Wir haben vorwiegend humanitäre Projekte pausiert. Das heisst, es finden keine Verteilungen statt – von Geld, von Winterhilfe, also Kleidung, Heizmaterial, aber auch von Nahrungsmitteln und Saatgut. Auch viele andere Hilfsorganisationen haben ihre Massnahmen pausiert. Das betrifft viele Menschen, die sowieso schon unter der Krise leiden.
Rechnen Sie damit, dass sich das wieder ändern wird?
Ich hoffe es, ich bin Berufsoptimist. Ich arbeite schon sehr lange in Afghanistan und es findet sich immer eine Lösung. Die Taliban haben sich auch selbst eine goldene Brücke gebaut. In dem Dekret stand, dass weibliche Angestellte gemäss Berichten nicht den gefragten Kleidungsvorschriften und der Geschlechtertrennung nachgegangen seien. Und daher sähen sie sich gezwungen, diesen Befehl zu erteilen. Ich denke, dieser Befehl wird zumindest aufgeweicht, wenn die Hilfsorganisationen das garantieren.
Sie sagen, die Taliban haben sich eine Art goldene Brücke gebaut. Ist es realistisch, dass sich genau in diesem Bereich etwas tun wird?
Ich bin vorsichtig optimistisch. Die Taliban müssen auch gegenüber der Bevölkerung etwas liefern. Und das Einzige, was sie machen können, ist Hilfsmassnahmen zuzulassen. Und wenn das nicht mehr oder nur in geringerem Masse funktioniert, werden die Taliban ein Problem haben, ihre Macht zu rechtfertigen.
Tausende von Menschen stehen auf der Strasse und suchen Arbeit.
Ist die Situation im Land durch das Dekret zusätzlich angespannt?
Viele Menschen bekommen nicht die Hilfe, die sie brauchen, gerade im Winter. Die Wirtschaftslage ist ganz, ganz schlecht. Dazu kommt: Der Sektor der Hilfsorganisationen ist der einzige halbwegs funktionierende Wirtschaftszweig. Es gibt keine andere Industrie hier.
Tausende von Menschen stehen auf der Strasse und suchen Arbeit. Allein in der grossen Militärbasis Bagram im Norden Kabuls, wo die Amerikaner ihre Hauptbasis hatten, haben 40'000 Afghanen gearbeitet. Die stehen alle auf der Strasse, seitdem die Amerikaner weg sind.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.