2014 hat die Schweiz die UNO-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Deren Forderung: Auch Menschen mit Behinderungen sollen das Recht bekommen, die Arbeit, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen, frei zu wählen.
Die Umsetzung dieser Anliegen steckt hierzulande allerdings noch in den Kinderschuhen. Das zeigt das Gespräch mit der Expertin Giulia Brogini zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung.
SRF: In der Behindertenpolitik gab es in den letzten Jahren einen Paradigmenwechsel. Im Vergleich zu früher geht es stärker darum, was die oder der Einzelne benötigt. Richtig weit ist die Schweiz in dieser Hinsicht noch nicht gekommen, oder?
Wir haben seit den 50er- und 60er-Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Damals stand die Fürsorge im Mittelpunkt. Heute haben wir – auch dank der Behindertenrechtskonvention – mehr Erfahrung. Die Konvention betont die Selbstbestimmung. Daneben geht es um wichtige Lebensbereiche, um das Wohnen, das Arbeiten, die Gesundheit und die Bildung.
Es ist nicht immer einfach, einer Arbeit nachzugehen, wenn man mit einer Behinderung lebt.
Trotzdem gibt es hierzulande punkto Arbeitsmarkt noch einige Hürden. Wie sehen diese aus?
Es ist nicht immer einfach, einer Arbeit nachzugehen, wenn man mit einer Behinderung lebt. Nur schon nur der Weg zur Arbeit kann sich schwierig gestalten. Zudem stellt sich die Frage, ob man im ersten oder im zweiten Arbeitsmarkt nach einer Stelle suchen soll.
Sprechen Sie damit Behindertenwerkstätten an?
Früher sprach man von Werkstätten, heute sind das Integrationsbetriebe. Allerdings gibt es zwischen dem ersten und dem zweiten Arbeitsmarkt viele weitere Möglichkeiten. Im Verlauf eines Lebens geht niemand immer der gleichen Arbeit nach oder ist immer gleich gesund. Das gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Gerade in diesen wichtigen Übergangssituationen brauchen sie Coachingangebote und Unterstützung.
Die Gesellschaft ist noch weit davon entfernt, die Gleichstellung wirklich zu leben.
Ist die Gesellschaft denn inzwischen offener geworden, Menschen mit Behinderungen auch im ersten Arbeitsmarkt stärker miteinzubeziehen?
Es gibt viele gute Projekte, bei denen man selbst lernen kann, sei es in der Arbeit als betroffene Person oder auch als Team oder Einsatzbetrieb. Ich würde aber sagen, dass die Gesellschaft noch weit davon entfernt ist, die Gleichstellung wirklich zu leben.
Es gibt ein neues Projekt: «Reporter:innen ohne Barrieren». Es fordert, dass es mehr Journalistinnen und Journalisten geben sollte, die selbst Behinderungen haben. Warum?
Das ist wichtig, weil die Perspektive eine andere ist, wenn man mit einer Behinderung leben muss. Man beobachtet die Dinge anders, wenn man zum Beispiel das Augenlicht verloren hat. Oder wenn man eine Mobilitätseinschränkung hat und eine beschwerliche Reise unternehmen muss, um eine Reportage zu machen. Es werden andere Themen gewählt.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass uns der Kompass fehlt
Welche konkreten Forderungen lassen sich in Bezug auf die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt ableiten?
Es geht darum, einen Umgang mit Behinderung und eine Gleichstellung in der Arbeit zu finden. Wir brauchen inklusive Arbeitssituationen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass uns der Kompass fehlt und wir Behinderungen in unserer Gesellschaft zu stark stigmatisieren. Alle leben ja irgendwann mit einer Behinderung. Vielleicht sollte man einmal ältere Menschen fragen, wie sie mit ihren Behinderungen im Alltag umgehen.
Das Gespräch führte Katrin Becker.